Spotnitz & Resnikoff und Narziss bzw. Narzissmus (1954)

Spotnitz & Resnikoff und Narziss: Die Mythen von Narziss

Hyman Spotnitz (hier einige biografische Notizen) und Philip Resnikoff geben in diesem Beitrag von 1954 (Originaltitel: The Myths of Narcissus) die Anregung, den Mythos von Narziss einmal gründlich mit pschoanalytischem Inventar zu durchleuchten. Spotnitz & Resnikoff und Narziss: Die Autoren behaupten, dass man all das, was Freud erfunden hat, mühelos in den Facetten des Mythos über den 16-jährigen Jüngling wiederfinden könne.

Narzissmus – nur als Selbstbespiegelung gedacht?

In Diskussionen höre ich manchmal, dass sich der Begriff „Narzissmus“ ja nun lediglich darauf beziehe, dass sein zentraler Ursprung darin liegt, dass Narziss sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt und dabei zu der Überzeugung gelangt, dass ihn nichts so sehr fasziniert wie er selbst.

Hierauf lässt sich antworten, dass schon den Psychoanalytikern der ersten Stunde – beispielsweise Otto Rank, 1911Friedrich Wieselers Mythensammlung zu Narziss (1856) bekannt war. Aus Wieselers Darstellung lassen sich insgesamt sieben verschiedene Varianten des Mythos herauslesen.

Im Jahr 1954 unternehmen dann Hyman Spotnitz und sein Co-Autor Philip Resnikoff einen ersten ausdrücklichen Versuch, die diversen Facetten des Mythos mit psychoanalytischen Weisheiten in Verbindung zu bringen. Interessant, dass sie lediglich das Verfolgt-Werden des Narziss durch die Nymphe Echo NICHT erwähnen. Dies steht im Gegensatz zu vielen moderneren AutorInnen, die die Begegnung des Narziss mit Echo geradezu zur Haupt-Version erklären.

Vermissen geliebter Angehöriger =
inzestuöses Begehren?

Weil Narziss beim Blick in das Wasser an seine kurz zuvor verstorbene Zwillingsschwester erinnert wird und sie vergeblich zu ergreifen und festzuhalten versucht, wird ihm das von Spotnitz und Resnikoff als inzestuöses Begehren ausgelegt – und nicht etwa als Ausdruck der tiefen Verzweiflung über deren Tod.

Dasselbe, als er bei seinem Blick ins Wasser durch sein Spiegelbild wohl an seine Mutter, die Quellnymphe Liriope, erinnert wird. Auch hier soll das vergebliche Greifen nach dem Spiegelbild im Wasser für die psychoanalytische „Wissenschaft“ das inzestuöse Begehren des Narziss belegen. Narziss entlarvt sich in den Augen der Autoren anscheinend hier als „Ödipus“. Sollte denn auch das Verzweifeln über den Verlust eines geliebten Elternteils nur aus sexuellen Motiven heraus zu verstehen sein?

Höhepunkt der Verständnislosigkeit

Der Höhepunkt der Verständnislosigkeit ist damit jedoch noch nicht erreicht. Spotnitz und Resnikoff resümieren, dass Narziss in den verschiedenen Varianten auf unterschiedliche Weise ums Leben komme. Einer dieser Varianten stammt von dem römischen Autor Probus. Nach ihm wird Narziss von Ellops, einem zurückgewiesenen „Verehrer“, getötet. In diesem Zusammenhang schreiben die Autoren nun:

„Bemerkenswert, dass Narziss, ein hübscher Jugendlicher mit der Fähigkeit, in anderen Schaulust hervorzurufen, dazu tendierte, aggressive Impulse in denjenigen auszulösen, die mit ihm sexuelle Beziehungen haben wollten.“

Hier wird doch von den beiden Autoren tatsächlich das (angebliche) Fehlverhalten von Narziss thematisiert! Das eindeutige Objekt der Gewalt wird zum Bösewicht erklärt. ER habe die Tendenz, Aggressionen in anderen auszulösen.

Bei Probus hingegen geht es um das Verbrechen des Ellops, der als das Subjekt der Gewaltausübung fungiert.

Diese Formulierung läuft auf ein neoliberales „Selbst schuld!“ hinaus. Als ginge es vor allem um die Frage: Was hat das Opfer dazu beigetragen, dass es so weit kam?

Geht es hier wirklich um die bemerkenswerte Tendenz von attraktiven Menschen, aggressive Impulse in denjenigen auszulösen, die mit ihnen sexuelle Beziehungen haben wollen? Oder geht es hier doch eher um ein spezifisches, nicht zu bagatellisierendes, unmissverständlich zu benennendes Verbrechen?

Mir scheint jedenfalls sinnvoll, in so einem Fall unmissverständliche Klarheit zu schaffen.

Literatur

Spotnitz, Hyman; Resnikoff, Philip (1954): The Myths of Narcissus. In: The Psychoanalytic Review, 1954, 41, 2, S.173-181.

Sylvia Zwettler-Otte (1989): Narzissmus im Spiegel antiker Mythologie. In: Günther Bartl, Friedrich Pesendorfer (Hg.): Strukturbildung im therapeutischen Prozess. Wien, Literas Universitätsverlag