
Claas-Hinrich Lammers und Narziss: Narzissmus. Selbstverliebter Westen?
Eine ganz spezielle Art der Verwirrung um den Begriff Narzissmus – und damit indirekt über das Wesen des mythologischen Narziss – produziert Claas-Hinrich Lammers.
Kritischer Ansatz …
In meinen Büchern zum Narzissmus (2019; 2021) hatte ich ihn mit drei sehr wichtigen und aus meiner Sicht vollkommen richtigen Aussagen zitiert:
„Ich würde mir für den Narzissmus-Begriff genau das wünschen, was mit der Hysterie passiert ist: seine Abschaffung und Zerlegung in verschiedene psychopathologische Probleme.“
In: „Narzissmus. Selbstverliebter Westen.“ (2017), Interview für spektrum.de
Und in seinem oben abgebildeten Buch „Bin ich ein Narzisst?“ (verfasst zusammen mit Gunnar Eismann) heißt es auf S. 7:
„Kein Mensch ist ein Narzisst“
Und auf S. 6:
„Es gibt eigentlich keinen Narzissmus“
Diese drei Aussagen liegen ganz auf der Linie dessen, was ich zu der Problematik dieses Begriffes „Narzissmus“ ausgeführt habe: seine im Kern enthaltene Opfer-Beschuldigungs-Ideologie, seine verworrene Entstehungsgeschichte und die möglichen katastrophalen Folgen, wenn unter diesem Konzept „Therapie“ angeboten wird.
So weit, so gut.
… von kurzer Dauer!
Nun ist jedoch im Jahr 2023 eine Artikelserie in der der WELT erschienen, in der es um „Narzissmus“ und um „narzisstische Beziehungen“ geht.
Diese Beiträge sind aus meiner Sicht unter zwei Aspekten besonders interessant:
1) Komplette Revision vernünftiger Sichtweisen
Bei den Beiträgen für die WELT aus dem Jahr 2023 bekomme ich den Eindruck, Claas-Hinrich Lammers hätte seine früheren Positionen nun klammheimlich vollkomen revidiert. Er lässt sich jedenfalls – mit zwei Äußerungen in dem Beitrag „toxische Beziehungen“ – geradezu gegenteilig vernehmen:
„Der Anfang ist oft überwältigend. Im Erstkontakt scheinen Narzissten sehr beeindruckend, selbstbewusst und charmant.“
Und:
„Es gibt drei Typen von Narzissmus“
In dem Beitrag „Das Geständnis zweier Narzissten“ ist er folgendermaßen zitiert:
„Psychotherapeut Claas Hinrich-Lammers erklärt, welche Formen von Narzissmus es gibt und mit welchen Gefahren man leben muss, wenn man sich in einen Narzissten verliebt.“
Jetzt, im Jahr 2023, soll es – nach Lammers – also doch so etwas wie „Narzissten“ und „Narzissmus“ geben? Wie kommt Professor Lammers wohl dazu, im Jahr 2023 seinen eigenen Aussagen von 2017 und 2019 so gänzlich zu widersprechen und diese neuen Positionen in die WELT zu setzen? Hat ihn in der Zwischenzeit die „Narzissmus-Lobby“ irgendwie gekauft oder erpresst?
2) Widersinniges Fallbeispiel
In den Beiträgen selbst findet sich ein konkretes Fall-Beispiel, an dem sich die Widersinnigkeit des Narzissmus-Begriffes schön deutlich machen lässt. Ob dieses Fallbeispiel irgendwie mit Claas-Hinrich Lammers abgesprochen war, kann ich nicht sagen.
Dazu möchte ich vorausschicken, dass ich mit Claas-Hinrich Lammers – im Vertrauen auf seine „vernünftigen“ Positionen – nach der Publikation meines Buches von 2021 telefoniert und ihm ein Exemplar davon zugesandt hatte. Er sagte mir dabei, dass er von diversen Varianten des Mythos nichts gewusst, dies jedoch mit Interesse vernommen habe.
Elias …
Im Fallbeispiel von „Elias“ heißt es im Jahr 2023 in der WELT:
„’Ich finde Frauen nur anziehend, wenn sie ein geringes Selbstwertgefühl haben‘
Narzist Elias hat eine ständige Angst vor dem Alleinsein
Elias, 23, aus Essen ist ein diagnostizierter Narzisst. Der Integrationshelfer sagt von sich, er sei krankhaft hilfsbereit. Entsprechend sieht auch sein Beuteschema in der Liebe aus. Lange gut geht das aber nie. Elias lebt in Essen und arbeitet dort als Integrationshelfer. Der 23-Jährige sorgt sich in seinem Leben vor allem um eine Sache – nämlich allein zu sein: ‚Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist das eigentlich meine größte Angst im Leben.‘
Beim Kennenlernen von Frauen hat Elias eine genaue Vorgehensweise. ‚Ich habe einen siebten Sinn für Frauen mit geringem Selbstwertgefühl und die sind auch mein Beuteschema.'“
… vs. Narziss
Vergleichen wir diese „Beziehungsgeschichte“ von Elias doch nun einmal mit der „Beziehungsgeschichte“ des fiktiven Narziss:
Da wird von Ovid erzählt, dass Narziss auf die Nymphe Echo trifft. Die schöne Nymphe hat eine besondere Eigenschaft: Sie kann nicht von sich aus sprechen, sondern immer nur die Worte nachplappern, die ihr Gegenüber gerade gesprochen hat. Sie ist also NICHT in der Lage, eigene Positionen zu vertreten. Vielmehr passt sie sich in ihren Aussagen quasi bedingungslos ihrem Gegenüber an. Damit ist sie für mich der Inbegriff einer Frau mit geringem (oder komplett fehlendem) Selbstwertgefühl.
Narziss = Elias?
Und was macht nun dieser Narziss angesichts dieser Echo? Denkt er etwa: „Genau mein Beuteschema! Mit dieser Tussi habe ich jetzt mal ein nettes Affärchen!“?
Nein! Im Gegenteil! Er erkennt sofort, dass mit dieser Echo KEINERLEI reife Beziehung möglich ist, weil sie sich jedem beliebigen Gegenüber vollkommen anpasst. Deswegen vermittelt Narziss ihr klipp und klar, dass er nicht im Traum daran denkt, mit ihr irgendeine Art von Beziehung zu haben – noch nicht einmal eine Affäre!
Und nun wird aber ein Mensch wie Elias, der genau auf solche Frauen wie Echo steht, für den eine Nymphe Echo perfekt ins „Beuteschema“ passt, der also keine Sekunde zögern würde, bei diesem Angebot zuzugreifen, als „Narzisst“ etikettiert. Elias verhält sich jedoch komplett gegenteilig zu Narziss.
Was ist da los? Hat diese Widersinnigkeit irgendetwas zu bedeuten?
Verwirrung als Prinzip
Mir scheint, dass solche Widersinnigkeit geradezu systematisch in die Welt gesetzt wird.
Zum einen wird die Menschheit mit dieser Geschichte – einmal mehr – darin „trainiert“, über Widersprüche hinwegzusehen, sie NICHT wahrzunehmen. Blindheit für Widersprüche macht die Menschen GEHORSAM. Man nimmt alle möglichen bizarren, widersprüchlichen Situationen hin, OHNE zu WIDERSPRECHEN.
(Zu dieser „antrainierten“ Blindheit für Widersprüche passt beispielsweise der Umgang mit den großartigen Theaterstücken des Sophokles, die zum Teil sehr markante Widersprüche enthalten, die jedoch in den ganzen Fachkommentaren quasi ausgeblendet werden – also auch nicht aufgelöst. Dies habe ich in mehreren Beiträgen für den „Rubikon“ dargestellt.)
Zum anderen dienen widersprüchliche Begriffe der Verwirrung. Diese Verwirrung ist hilfreich, um der Menschheit plumpe Propaganda zu verkaufen – in diesem Fall: eine brutale Opfer-Beschuldigungs-Ideologie, die besagt, dass die Opfer von Gewalt an ihrer Situation selbst schuld seien: Sie seien selbst die Täter.
Nachtrag zu Claas-Hinrich Lammers & Co.

In dem Lammers-Buch „Psychotherapie narzisstisch gestörter Patienten“ (2015) (unter Mitarbeit von Gitta Jacob und Gunnar Eismann) fehlt jegliche Auseinandersetzung mit dem Mythos, der dem Begriff „Narzissmus“ seinen Namen leihen musste. Schon das ist vielleicht bezeichnend – und aus meiner Sicht natürlich schade.
Was dann von dem AutorInnen-Team als ein Abriss der Begriffs-Geschichte vorgetragen wird, soll hier näher betrachtet und bewertet werden.
Satz 1
Das Buch beginnt auf Seite 3 – nach einem Montaigne-Zitat – mit Kapitel 1.1 „Der Begriff ‚Narzissmus‘: Geschichte und heutige Verwendung“ und dem folgenden Satz:
„Der Begriff ‚Narzissmus‘ als Bezeichnung einer selbstbezogenen und selbstüberschätzenden Persönlichkeitseigenschaft wurde erstmals 1898 von Havelock Ellis für einen Mann mit ausgeprägten autoerotischen Verhaltensweisen benutzt.“
Hierzu möchte ich anmerken:
1) Der Begriff „Narzissmus“ wird 1898 von Ellis (hier ausführlich zu seiner Position) gar nicht benutzt. Er spricht lediglich von „Narziss-artiger Tendenz“. Den Begriff „Narcismus“ schöpft erst ein Jahr später aus einer Art übersetzender Zusammenfassung dieses Ellis-Artikels der Psychiater Paul Näcke.
2) Der Satz suggeriert gewissermaßen, dass Ellis der Person, die er 1898 beschreibt, eine „selbstbezogene und selbstüberschätzende Persönlichkeitseigenschaft“ attestiert hätte. Davon ist Ellis 1898 jedoch meilenweit entfernt. Er charakterisiert diese Person lediglich als „aktiv und gesund und intelligent“. Als deren „Symptomatik“, die er „Narziss-artige Tendenz“ benennt, beschreibt er dann, dass sie sich gerne ausgiebig im Spiegel betrachtet habe. Noch 29 Jahre später, in einem Artikel von 1927, beschreibt Ellis diese Person als „vollkommen gesund, von niemandem als nicht normal angesehen, sehr geschäftstüchtig“. Also keinerlei Aussage über irgendwelche ausgeprägten Persönlichkeitseigenschaften, geschweige denn etwas in Richtung „selbstbezogen und selbstüberschätzend“.
3) Das einzige Fallbeispiel, auf das sich Ellis 1898 bezieht und dem er dieses sehr spezielle Sich-Selbst-Bespiegeln attestiert, handelt von einer FRAU. Offensichtlich hat er sich dieses Verhaltensmuster von der Betroffenen schildern lassen, hat es also nicht selbst beobachtet.
4) Nach Ellis in seiner Darstellung von 1898 ist das Charakteristische am Verhalten dieser Frau, dass bei ihr während dieser Selbst-Bespiegelung sexuelle Gefühle in der Selbstbewunderung „absorbiert“ gewesen seien. Es ist also gerade nicht das, was wir heute unter „ausgeprägten autoerotischen Verhaltensweisen“ verstehen würden. In späteren Publikationen (ab 1900) hatte Ellis zu diesem Fallbeispiel quasi entschuldigend angemerkt, dass er hier – 1898 – von einem komplett asexuellen Geschehen ausgegangen war (z.B. Ellis, 1900, S. 201):
„Ich muss noch hinzufügen, dass ich zu näherer Untersuchung dieses Falles keine Gelegenheit hatte, daher nicht mit Bestimmtheit behaupten kann, dass Masturbation nicht stattfand.“
Wir wissen also nicht, ob bei diesem Fallbeispiel „ausgeprägte autoerotische Verhaltensweisen“ vorgelegen haben. Ellis selbst geht jedenfalls 1898 davon aus, dass dies NICHT der Fall war.
Satz 2
Der Unsinn hat damit jedoch noch kein Ende. Im zweiten Satz heißt es nun:
„Es ist festzuhalten, dass mit dem Begriff ‚Narzissmus‘ keine Krankheit, sondern eher eine Variante der normalen Persönlichkeit beschrieben wurde.“
Hierzu ist aus meiner Sicht Folgendes „festzuhalten“:
Punkt 1
Tatsächlich hat Havelock Ellis bei dem Phänomen, das er 1898 als „Narziss-artige Tendenz“ benennt, nicht etwa so etwas wie eine „Perversion“ im Sinn. Er ist jedoch über viele Jahre und den diversen überarbeiteten Neuauflagen seines Textes nie wirklich sehr klar und eindeutig.
Erst im Jahr 1927 (S. 138, FN 17) formuliert er zur „Narciss-artigen Tendenz“, die er als Bestandteil des Autoerotismus versteht, ganz unmissverständlich:
„Autoerotismus in meinem Sinne ist keine Perversion.“
Er produziert jedoch auch weitere Unklarheit, wenn er jetzt bei seiner „Narciss-artigen Tendenz“ – als Zustand mit „krankhaften Zuspitzungen“ – an ein Phänomen strikt OHNE sexuelle Erregung denkt. Denn damit gerät er in Widersprüche zu seinen eigenen Äußerungen in den Jahren zuvor, speziell 1922.
Punkt 2
Der Begriff „Narcismus“, Ausgangspunkt dieser ganzen unseligen Begriffsgeschichte, wird von Paul Näcke im Jahr 1899 (b) aufgebracht und definiert, als er bemüht ist, einen Gedankengang von Havelock Ellis vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Die beiden „Narzissmus“-Pioniere haben dabei übrigens recht widersprüchliche Vorstellungen von dem gemeinten Phänomen. Einig sind sie sich dabei unter anderem darin, dass diese spezielle Art der Selbstbespiegelung ÄUSSERST SELTEN vorkommt. Schon allein dies legt nahe, dass die Erfinder des „Narcismus“ darin NICHT „eine Variante der normalen Persönlichkeit beschrieben“ sehen wollten.
Dies ist umso offensichtlicher, wenn man bedenkt, dass Paul Näcke den Begriff „Narcismus“ im Zusammenhang seiner Forschungsarbeiten zu den „sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt“ verwendet. Und da findet er unter circa 1.500 „Irrsinnigen“ EIN EINZIGES MAL den Fall einer Frau, der er „echten Narcismus“ bescheinigt. Und diesen „Narcismus“ DEFINIERT er wie folgt:
„(…) nur dort, wo das Betrachten des eigenen Ich’s oder seiner Theile von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist, kann mit Fug und Recht von Narcismus gesprochen werden.“
Hier ist vollkommen offensichtlich, dass vom Erfinder des Begriffes „Narcismus“ KEINESWEGS „eine Variante der normalen Persönlichkeit“ beschrieben werden sollte.
Satz 3
Und munter setzt es sich fort:
„Im Anschluss an Ellis beschäftigte sich Otto Rank (1911) mit diesem Begriff und verknüpfte ihn erstmals mit Eigenschaften wie Eitelkeit und Selbstbezogenheit sowie mit deren Funktion als Abwehr gegen problematische Selbstanteile.“
Otto Rank (1911) „schließt“ sich zwar Ellis „an“ – gleichzeitig bezieht er sich jedoch – immerhin korrekt – ebenso auf Paul Näcke. Auf diesem Grundgerüst eines von Näcke geschöpften „Narcismus“ soll der spätberufene Philosoph Otto Rank dann – so die AutorInnen – „erstmals“ Eigenschaften wie „Eitelkeit und Selbstbezogenheit“ mit diesem Begriff verbunden haben.
…“erstmals“ …
Die älteste Stelle, die ich gefunden habe, an der sich innerhalb der psychoanalytischen Bewegung meines Wissens die Verwendung des Begriffes „Narzissmus“ nachweisen lässt, ist eine Stelle in den „Protokollen der psychologischen Mittwoch-Gesellschaft“ vom 10. November 1909 (Hg. von Nunberg & Federn): Hier äußert sich Freud – laut Sitzungsprotokoll – anerkennend über einen Gedanken von Isidor Sadger:
„Neu und wertvoll scheine die Bemerkung Sadgers, die sich auf den Narzissmus beziehe. Dieser sei keine vereinzelte Erscheinung, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe des Übergangs vom Autoerotismus zur Objektliebe. Die Verliebtheit in die eigene Person (= in die eigenen Genitalien) sei ein notwendiges Entwicklungsstadium. Von da gehe man zu ähnlichen Objekten über.“
Das „erstmals“ von Lammers & Co. müsste sich also a) auf Isidor Sadger beziehen und b) auf 1909 datiert werden.
Intention des Autors Rank
In dem Artikel Ranks von 1911 geht es dem Autor darum, einen ersten Fall von Homosexualität BEI EINER FRAU mit „Narzissmus“ in Verbindung zu bringen. Bei Rank heißt es (S. 402):
„Die nachstehende kleine Mitteilung … möchte nur einen bescheidenen Beitrag zum Thema des weiblichen Narzissismus liefern, der zu zeigen vermag, wie die Verliebtheit in den eigenen Körper ein gutes Stück der normalen weiblichen Eitelkeit bedingt, wie sie andererseits mit einer, wenn auch unbewussten Inversionsneigung in innigem Zusammenhang steht und wie sie sich endlich auch im normalen heterosexuellen Liebesleben Geltung zu verschaffen weiß.“
Für Männer – so wird suggeriert – scheint bereits eine Fülle von „Erfahrungen“ dazu vorzuliegen (S. 401 f):
„Neuere psychoanlytische Erfahrungen, insbesondere an Patienten mit gleichgeschlechtlichen Neigungen, haben es zunächst nahegelegt, den Narzissismus, die Verliebtheit in die eigene Person, als ein normales Entwicklungsstadium aufzufassen, welches die Pubertätszeit einleitet und dazu bestimmt ist, den notwendigen Übergang vom reinen Autoerotismus zur Objektliebe zu vermitteln. Wie das Verweilen auf dieser narzissistischen Übergangsstufe die Richtung der gleichgeschlechtlichen Neigung bestimmen kann, hat die Psychoanalyse männlicher Invertierter gelehrt“.
Hier wird dann in einer Fußnote auf Freuds 2. Auflage von „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ und Isidor Sadger, 1910, verwiesen.
Was diese vollmundige Ankündigung nicht so ganz deutlich werden lässt: Es ist im Grunde nur EIN EINZIGES ausführlicher beschriebenes Fallbeispiel von Isidor Sadger (1910), auf dem diese „fundierte“ „Psychoanalyse männlicher Invertierter“ beruht. Und dieser satten Datenlage für männliche Homosexualität [Ironie!] stellt Rank nun EIN EINZIGES Fallbeispiel von (angeblich) weiblicher Homosexualität zur Seite.
Diesem „Mädchen“ attestiert Rank (S. 402), dass es sich bei ihm um ein „weder neurotisches, noch ihrem manifesten Empfinden nach innvertiertes Mädchen“ handelt. Trotzdem ist Rank überzeugt, dass „dessen [des Mädchens;K.S.] gleichgeschlechtliche Neigung jedoch durch die ausführliche Analyse eines ihrer [seiner; K.S.] Träume als erwiesen angesehen werden darf.“
Diese „ausführliche Analyse“ verläuft ungefähr so: Der Traum dieses „Mädchens“ hat nach Rank – plausibel – zum Inhalt, ob und wie die Betroffene sich einen früheren Verehrer vielleicht zum Ehegatten machen kann. Im Traum betrachtet sie Abbildungen von anderen Frauen. Offenbar versucht sie also, ihre eigene Attraktivität einzuschätzen. Dabei findet sie eine der Frauen besonders attraktiv. Für Rank ist – wie auch für mich – plausibel, dass im Traum sie selbst in dieser anderen Frau symbolisiert ist. Das wiederum – so Rank – bezeugt ihre „Verliebtheit in die eigene Person“, welches wiederum „die narzisstische Grundlage der homosexuellen Verliebtheit allzu deutlich verrät“. So einfach ist das. Die – natürlich unbewusste – Homosexualität dieser Frau darf „als erwiesen angesehen werden“. Zumindest für Rank und seine psychoanalytischen Komplizen, die ihm hier sicherlich sofort zugestimmt haben.
„Eitelkeit und Selbstbezogenheit“ in ihrer „Funktion als Abwehr gegen problematische Selbstanteile“?
Der folgende Teil dieses Satzes von Lammers & Co. bleibt mir rätselhaft: Danach soll – nach Rank – „Eitelkeit und Selbstbezogenheit“ angeblich irgendwie „als Abwehr gegen problematische Selbstanteile“ gedient haben. Das klingt zwar ziemlich „psycho-analytisch“, entbehrt bei näherem Hinsehen jedoch jeglicher Plausibilität.
Rank spricht nicht von „Abwehr“, sondern (in Bezug auf Homosexualität) von einem „Verdrängungsmechanismus“ (S. 402) bzw. (in Bezug auf die angebliche Selbstverliebtheit) von einer „verhüllenden Zensur“ (S. 407). Mit einem „problematischen Selbstanteil“ – ein Terminus, der bei Rank ebenfalls nicht zu finden ist – soll von Lammers & Co. wohl die von Rank unterstellte, herbeigeschwafelte Homosexualität dieses „Mädchens“ gemeint sein. Diese wiederum wird von Rank allerdings ziemlich direkt aus der „Selbstbewunderung“ (in Traum und Realität) abgeleitet.
Was nach Rank problematisch oder verhüllenswert ist, das sind „Eitelkeit“ oder „Selbstbezogenheit“ per se, die ohne großes Zögern mit „Homosexualität“ gleichgesetzt werden. „Eitelkeit und Selbstbezogenheit“ haben also nicht irgendeine Funktion, sollen nicht irgendwie irgendeiner „Abwehr“ dienen, sondern sind für sich selbst genommen bereits Charakterzüge, die – nach Rank – zu problematisieren sind.
Womit verknüpft Rank den Narzissmus-Begriff?
Die zentrale Verknüpfung des Narzissmus-Begriffes für Rank – wie auch schon zuvor für Sadger und Freud – liegt in der Homosexualität. Narzissmus wird 1909 von Sadger als „Verliebtheit in die eigenen Genitalien“ definiert. Damit ist der Weg gebahnt zur Homosexualität. Und damit befinden sich Sadger und Freud und Rank in einem diametralen Gegensatz zu den Narzissmus-Pionieren Ellis und Näcke. Diese beiden Erfinder des Begriffes „Narzissmus“ waren sich bereits – wie schon erwähnt – in etlichen Punkten uneinige. Einig waren sie sich lediglich in drei Aspekten:
- Narzissmus sei eine Form des intensiven Gebannt-Seins vom eigenen Spiegelbild.
- Dieses Phänomen sei äußerst selten.
- Dieses Phänomen habe NICHTS mit Homosexualität zu tun.
Während die psychoanalytischen „Spezialisten“ mit dem ersten Punkt wohl noch mitgehen, haben sie bei Punkt 2. und 3. VOLLKOMMEN KONTRÄRE Positionen zu den Erfindern des Begriffes bezogen. Für Sadger, Freud und Rank befinden sich ALLE Menschen in ihrem Leben zwangsläufig mal in einem Stadium des „Narzissmus“. Und: Dieser Narzissmus ist geradezu die Grundbedingung für Homosexualität.
Das ist also das, womit Otto Rank den Narzissmus-Begriff im Wesentlichen „verknüpft“: mit einem universellen Entwicklungsstadium aller Menschen, das direkt in die Homosexualität führt, sofern man darin verharrt.
Satz 4 + 5
„Auch Rank sah diese Form des Narzissmus als Teil der normalen menschlichen Entwicklung an. Sigmund Freud übernahm von Otto Rank den Begriff des Narzissmus für eine Phase des normalen kindlichen Entwicklung vom Autoerotismus zur Objektliebe, obwohl er narzisstische Eigenschaften bereits als dimensionales Konzept mit normalen und krankhaften Ausprägungen verstand.“
Die normale menschliche Entwicklung: Als Schwein geboren …
Nun sollte man wissen, was von Sigmund Freud und den Theoretikern der Psychoanalyse als „normale menschliche Entwicklung“ angesehen wird. Nach den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ von Freud (1905) kommt der Mensch „normalerweise“ als „polymorph-perverses“ Wesen auf die Welt. Oder, wie es der Freud-Schüler Sadger in seinem Narzissmus-Beitrag von 1910 (S. 115) so schön formuliert:
„Das Kind ist ja nach dem treffenden Ausspruch von Professor Freud ‚polymorph pervers’. Das ist nun genau das Bild unseres Grafen [Sadgers Fall von Narzissmus; K.S.], der eigentlich äußerst wenig sublimierte und dasselbe Schwein geblieben [ist], welches er als Kind physiologisch war.“
„Teil der normalen menschlichen Entwicklung“ ist also – für die psychoanalytische Schule – das Geboren-Werden als Schwein. Wer es dann nicht schafft, von seinen Schweinereien wie Narzissmus = Homosexualität loszulassen, der bekommt später Probleme.
Otto Rank oder Isidor Sadger?
Dass es Otto Rank gewesen sein soll, der die Idee mit der „normalen kindlichen Entwicklung vom Autoerotismus zur Objektliebe“ aufgebracht haben soll, ist ein weiterer Irrtum der AutorInnen: Wie das oben zitierte Protokoll der Mittwoch-Gesellschaft (Protokollant: Otto Rank) vom 10. November 1909 ausweist, hat Freud diese Idee mit großer Anerkennung von Isidor Sadger übernommen – auf den er sonst meist nicht so gut zu sprechen war. Sadger wiederum will uns, wie gerade zitiert, als „normale“ Entwicklung weis machen, dass wir Menschen physiologisch als Schweine geboren werden.
Ist das „Wissenschaft“?
Dieses Buch über „Narzissmus“ bzw. die Therapie – angeblich – entsprechend gestörter Menschen beginnt mit einem Satz zur Entstehungsgeschichte dieses Begriffes, der gleich VIER grobe Fehler enthält!
[Der Unsinn zu den Punkten 3) und 4) in Satz1 wird übrigens in ähnlicher Form bei Gerhard Dammann und Craig Malkin vorgetragen. Ich habe bis heute keine Idee, wo er seinen Ursprung haben könnte. Am ehesten hätte ich den Verdacht, dass sich irgendeine Sekundärquelle auf den Ellis-Beitrag von 1922 bezieht. Und es ist dann, wie mit dem Wikipedia-Pausanias-Fake-Mythos: Wenn solch ein Unsinn erst einmal in die Welt gesetzt ist, dann entwickelt er sein Eigenleben und ist kaum noch zu stoppen.]
Auch die weiteren vier einleitenden Sätze von Lammers & Co. kann ich nur als Offenbarung vollkommener Ahnungslosigkeit bezüglich der Entstehung des Begriffes „Narzissmus“ einsortieren.
Wäre es nicht angemessen gewesen, die AutorInnen hätten sich zu Beginn des Buches ein wenig sorgfältiger um die Begriffsgeschichte gekümmert? Sollten sie nicht für eine „Fachpublikation“ wirklich ernsthaft die Entstehungsgeschichte des Begriffes Narzissmus aufgezeigt haben, anstatt sie zu verschleiern? Hätten sie nicht bei etwas näherem Hinsehen die Verworrenheit dieses Begriffes erkennen und darstellen müssen? Tragen sie nicht mit ihrem Text zur weiteren Verwirrung bei? Ist es belanglos, ob einer womöglich unbedarften (studentischen) LeserInnenschaft dieser Unsinn einfach weitergegeben wird? Was sind die auf diese ersten fünf Sätze folgenden Ausführungen noch wert, wenn in einer solch knappen Einführungspassage bereits eine solche Fülle von groben Verständnisfehlern offenbar wird?
Literatur
Ellis, Havelock (1898): Auto-Erotism: A Psychological Study. In: The Alienist and Neurologist, 1898, 19, 260-299
Ellis, Havelock (1900, 1. Auflage): Geschlechtstrieb und Schamgefühl. Leipzig, Georg H. Wigand’s Verlag [1901 wurde diese Ausgabe bei A. Stuber unverändert als 2. Auflage herausgebracht]
Ellis, Havelock (1907, 3. Auflage): Geschlechtstrieb und Schamgefühl. Würzburg, A. Stuber
Ellis, Havelock (1922, 4. Auflage): Geschlechtstrieb und Schamgefühl. Vierte, ergänzte und erweiterte Auflage. Leipzig, Verlag von Curt Kabitzsch
Ellis, Havelock (1927): The Conception of Narcissism. In: The Psychoanalytic Review (1927). Vol. 14, Nr. 2, 129-153
Lammers, Claas-Hinrich (2015): Psychotherapie narzisstisch gestörter Patienten. Stuttgart, Schattauer
Lammers, Claas-Hinrich (2017): Narzissmus. Selbstverliebter Westen. Interview für spektrum.de (online)
Lammers, Claas-Hinrich & Eismann, Gunnar (2019): Bin ich ein Narzisst? Oder einfach nur selbstbewusst? Stuttgart, Schattauer
Näcke, Paul (1899 a): Die sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt; in: Psychiatrische en Neurologische Bladen (1899), Bd. 3, S. 122-149
Näcke, Paul (1899 b): Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen Sexualität. in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (1899), Bd. 32, 356-386
Nunberg, Hermann; Federn, Ernst (Hg.) (1976-1981): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (Bd. I-IV): Frankfurt a.M., S. Fischer Verlag
Rank, Otto (1911): Ein Beitrag zum Narzissismus. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, 1911, 401-426
Sadger, Isidor (1910): Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absencen. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, 1910, 59-133