Narzissmus
In seinem Beitrag über den „Narzissmus” (Untertitel: Wichtige psychodynamische Konzepte und ihre Auswirkungen auf die klinische Praxis) schafft es Gerhard Dammann, in wenigen Zeilen eine überdeutliche Verständnislosigkeit an den Tag zu legen. Nicht nur, dass er eine einfache Geschichte, also den Mythos von Narziss, missversteht. Es gelingt ihm auch wiederholt, Texte als Beleg für seine Aussagen heranzuziehen, in denen ganz anderes zu finden ist als er uns vorgaukelt. Es wundert mich nicht, dass Dammann auf dieser Grundlage von Verständnislosigkeit in der Therapie mühelos ein Opfer übelster Behandlung zur Täterin erklärt.
Profunde Ahnungs-losigkeit
Mythologische Exkursionen
Gerhard Dammann über Narziss:
„Narkissos (und die ihm verwandten Ikaros und Prometheus) markieren das Thema des Neids, der Arroganz und Objektlosigkeit, wie wir es auch in der christlichen Religion in der Gestalt des gefallenen, aber unversöhnlichen und in sich gefangenen Engels Luzifer finden.“
Dazu erläuternd:
„Ikaros, (…) der mit einer Flugmaschine aus Wachs, gegen den Rat des Vaters, immer höher zur Sonne fliegt und tödlich abstürzt. (…) Prometheus, der das Verbot der Götter bricht und den Menschen das Feuer bringt. Auch hier findet sich das Element der Hybris, das heißt, mehr sein zu wollen, als einem zusteht, was Zorn hervorruft.“
Vermessenheit und Sonstiges
Worin genau soll denn nun die „Hybris“ (= Vermessenheit) bei Narziss bestehen? Weil er sich nicht auf die tumbe Echo einlassen wollte? Weil er einem zudringlichen Kerl kein Liebhaber sein wollte? Was genau wäre daran vermessen? Darüber hinaus: Wo genau wird von Narziss so etwas gezeigt wie „Neid, Arroganz, Objektlosigkeit“?
Neid?
Sehen wir uns den „Neid“ an. Mag sein, dass Narkissos jene beneidet, deren (Zwillings-)Geschwister oder Eltern noch leben. Das wäre durchaus nachvollziehbar. Doch Entsprechendes wird nicht berichtet. Und auch sonst kann ich nicht mal ansatzweise irgendwelche Aspekte von „Neid“ aus der Geschichte des Narziss herauslesen.
Arroganz?
Und die „Arroganz“? Wenn ich diesen Begriff auf seine Herkunft zurückverfolge, abgeleitet von (lat.) arrogans = anspruchsvoll, dann trifft das allemal auf Narziss zu. Er ist – zu Recht! – so anspruchsvoll, dass er mit einer profillosen Echo nichts zu tun haben möchte. Und dass Ameinias und Ellops nicht seinen Ansprüchen genügen – wahrscheinlich ist er halt nicht schwul oder steht zumindest auf andere Typen –, wer will ihm das verübeln? Wenn Dammann also „arrogant“ im Sinne von anspruchsvoll meinen würde, dann könnte ich seiner Aussage zustimmen. Aber er scheint hier eher an so etwas wie Hochnäsigkeit zu denken. Wenn Ovid dem Narziss – mit offensichtlich ironischem Unterton – „superbia“ = Hochmut, Stolz bescheinigt, so kann ich davon in dem selbstverständlichen Ablehnen diverser Beziehungswünsche bei bestem Willen nichts entdecken. Gerade mit Blick auf die breitere Fassung des Mythos, zum Beispiel nach Wieseler, findet sich in seinem Handeln keinerlei Beleg für Hochnäsigkeit.
„Objektlosigkeit“???
Was Dammann mit „Objektlosigkeit“ meint, müsste er mir erst einmal erklären. Es klingt irgendwie fachmännisch, entbehrt meiner Ansicht nach jedoch jeder vernünftigen Substanz.
Dammann und die Mythen
Was genau will uns Dammann über diesen Vergleich des Narziss mit Ikaros, Prometheus und Lucifer vermitteln? Will er hier (bewusst) für noch mehr Verwirrung sorgen? Narkissos als Ebenbild Luzifers? Hier wäre zunächst zu klären, ob Dammann sich auf diesen „Lichtträger“ (wörtlich übersetzt) vor oder nach seinem Sturz bezieht. Welche Geschichte genau verbindet er damit? Wenn Dammann hier ohne erkennbaren Sinn und ohne nähere Erläuterung weitere mythologische Gestalten als Vergleich einführt, gibt er der ohnehin schon bestehenden Verwirrung nur noch mehr Nahrung.
Dammann offenbart an dieser Stelle seines Textes auch ein traditionelles psychoanalytisches Missverständnis in Bezug auf den Mythos von König Ödipus. Von ihm sagt Dammann, dass er „aus ihm unbewussten Gründen mit seiner Mutter schlafen und seinen Vater töten“ würde. Eine solche Sicht hält jedoch einer differenzierten Analyse nicht Stand. (Mehr dazu hier.) Anstatt „unbewusste Gründe“ auf Seiten des Ödipus für eine Erklärung heranzuziehen, muss hier über den bewussten mütterlichen Vernichtungswillen nachgedacht werden. Dieser führt nämlich dazu, dass Ödipus als Säugling von Iokaste, seiner Mutter (und späteren Ehefrau), ausgesetzt wird. Auf diese Weise wird er zwangsläufig seinen beiden Eltern entfremdet. Diese beinahe tödliche Entfremdung bedingt im Wesentlichen das weitere Geschehen. Unter anderem ermöglicht sie, dass Vater und Sohn sich später in einer Notwehrsituation gegenüberstehen – ohne sich natürlich gegenseitig zu erkennen. Der Streit endet für den Vater tödlich. Als Ödipus später auch noch durch einen dummen Zufall seine Mutter heiratet, ist sich diese selbst durchaus bewusst, dass es ihr Sohnemann ist, mit dem sie in einen Ehebund eingegangen ist. Diese Erkenntnis besteht im umgekehrten Fall natürlich nicht.
Textverständnis
Bestrafung durch
Verwandlung in eine Blume
„Ein anderes Element“, so Dammann, „begleitet den Mythos ebenfalls: Narkissos stirbt an seiner Selbstbezogenheit. (Nach einer Version des Mythos’ wird er zur Strafe von den Göttern in eine Narzisse/Blume verwandelt, in einer anderen Variante, ertrinkt er sogar beim selbstverliebten Betrachten von sich selbst im Wasser.) Der Narzissmus ist also eine Krankheit, die potenziell zum Tode führen kann.“
Diese flotte Deutung – das angebliche Sterben des Narziss „an seiner Selbstbezogenheit“ – entspricht zwar dem üblichen Klischee, scheint mir aber doch recht weit hergeholt zu sein. Und die Verwandlung in eine Narzisse als „Strafe von den Göttern“ (Strafe für was? Für diese angebliche Selbstbezogenheit?) ist eine ziemlich schnodderige, verquere Zusammenfassung. Als „strafende Gottheit“ tritt lediglich Nemesis in Erscheinung. Und deren Bestrafung besteht nicht darin, ihn in eine Blume zu verwandeln. Vielmehr verhext sie ihn mit übermäßiger Selbstverliebtheit, die folglich also eher nicht der eigentlichen Natur des Narziss entspricht.
Studium der Quellentexte? Fehlanzeige!
Dammann beginnt seinen Beitrag verheißungsvoll:
„Der Mythos des Jünglings ‚Narkissos’ aus der griechischen Mythologie hat dem klinischen Phänomen des Narzissmus seinen Namen gegeben (Wieseler 1856; Renger 1999).“
Insbesondere Wieselers Werk hätte Dammann eine ausführliche Aufklärung über das breite Spektrum der antiken Sage bieten können. Aber das, was er von dem Material aufgreift und wie er es deutet, fällt so dürftig aus, als hätte er die Quellen nie wirklich studiert.
Suche nach einem verlorenen Objekt?
„In diesem Mythos findet sich vieles, was bis heute das Verständnis des Narzissmus prägt. Narziss verliebt sich, dem Mythos nach, in sein eigenes Spiegelbild. Er ist aber auf der Suche nach einem verlorenen Objekt (in einer Version des Mythos eine früh verlorene Zwillingsschwester).“
Dieser psychoanalytische Jargon – „auf der Suche nach einem verlorenen Objekt“ – lässt bereits eine Einfühlung in die (fiktive) Lebensgeschichte vermissen. Narziss ist mitnichten „auf der Suche“; vielmehr weckt sein zufällig erblicktes Spiegelbild die tiefe Trauer um die geliebte, kurz zuvor verstorbene Zwillingsschwester. Diese wiederum ist alles andere als ein „Objekt“.
Auf der Suche nach dem Anderen?
„Andere, die ihn begehren, wie die Nymphe Echo, weist er zurück. Er ist somit eigentlich auf der Suche nach dem Anderen, fällt aber immer wieder auf sich zurück.“
Es ist doch nicht zu übersehen, dass es Echo ist, die dem Narziss hinterherschleicht und sich ihm an den Hals wirft. SIE hat sich IN IHN verguckt – nicht umgekehrt. Die von Ovid geschilderte Szene hat nichts mit jemandem zu tun, der „auf der Suche nach dem Anderen“ ist. Hier offenbart Dammann einmal mehr einen auffallenden Verständnismangel.
Geschichten und Lebensgeschichten
In Psychotherapien sind erzählte Lebensgeschichten – neben dem persönlichen Eindruck von den Erzählenden – meist ein zentraler Ansatzpunkt, um sich in die Situation des Gegenübers einzufühlen. Therapie kann an den Berichten von traumatisch erlebten Begebenheiten ansetzen – zu Hause, in der Schule, in Krankenhäusern oder sonst wo. Die alten Situationen sollten dann noch einmal möglichst lebhaft erinnert und durchgearbeitet werden. Die damals daraus eventuell entstandenen falschen Bewertungen des Kindes von Schuld, Wert, Recht, Gefahr, Schande, Zuständigkeit, Wichtigkeit etc. sollen revidiert und neu bestimmt werden können – und zwar vom Standpunkt des Erwachsenen von heute aus. Denn als Erwachsene verstehen wir sehr viel mehr von der Welt – beispielsweise was in ihr als angemessen oder gerecht angesehen wird.
Die erzählten Lebensgeschichten von PatientInnen sollten angemessen gedeutet werden, um den Betroffenen dabei zu helfen, aus der Rückschau eine angemessene, gesunde Sicht auf die Verhältnisse von damals zu werfen. Wer als Therapeut dazu nicht in der Lage ist, der wird einem therapeutischen Anspruch nicht gerecht werden können.
Dammanns eigene Fall-Arbeit
Dammann liefert uns übrigens ein praktisches Beispiel dafür, wie man mit dem Begriff Narzissmus ein Therapieopfer selbst zur Täterin erklärt (vergleiche das ausführliche Fallbeispiel hier): Ein verheirateter Therapeut hatte eine Patientin (mit Erfahrung von sexualisierter Gewalt in der Kindheit) zunächst verführt, dann abrupt fallengelassen. Daraufhin hatte die Frau sich das Leben genommen. Dammanns Verständnislosigkeit gegenüber diesem Opfer einer miserablen Fehlbehandlung ist bodenlos
Begriffsbewusstsein
Mythenrezeption
Die Rezeption des Mythos bei Dammann ist äußerst mangelhaft. Er zitiert zwar ausgiebige Quellen, interessiert sich jedoch offenbar nicht für deren Inhalt. Bei dem, was er an Quellen verwendet, vermisse ich das einfachste Textverständnis. Zum Beispiel will er uns weismachen, dass Narziss von „den Göttern“ durch die Verwandlung in eine Blume bestraft worden sei.
Begriffsgeschichte
Havelock Ellis –
und dessen angebliches Fallbeispiel
Wenn Dammann auf jenen Aufsatz von Ellis zu sprechen kommt, der den Anstoß zur Einführung des Begriffs Narzissmus gab, den er in seiner Literaturliste sogar ausdrücklich anführt, schreibt er:
„Einige Meilensteine zur Geschichte des Konzepts: Ellis (1898) rekurriert in einer Fallgeschichte eines exzessiv masturbierenden Mannes auf den Mythos von Narziss“.
Dabei ist es nur eine einzige „Fallgeschichte“, auf die sich Ellis 1898 bezieht, als er sein Konzept von einer „Narziss-artigen Tendenz“ erläutert. Und zwar geht es um eine „28-jährigen Dame“, die Gefallen an sich findet, wenn sie sich selbst betrachtet. Nach Ellis seien dabei „sexuelle Gefühle … absorbiert“. In späteren Auflagen seines Textes (ab 1900) stellt er klar, dass er sie gar nicht befragt hatte, ob sie „Masturbation“ betrieben habe. In seiner ursprünglichen Vorstellung hatte sie das gerade nicht getan.
Aus diesen Fakten zaubert Dammann nun den Fall „eines exzessiv masturbierenden Mannes“. Was ist hier los? Hat er diesen Satz – trotz Verweis auf den Original-Artikel, in dem nur das genaue Gegenteil zu finden ist – lieber von irgendeiner ominösen Sekundärquelle abgeschrieben? (Er hat ja ebenso Wieseler und Renger als Quellen seiner Erkenntnis ausgegeben, ohne seine Schrift mit dem einen oder anderen wesentlichen Gehalt dieser Literatur anzureichern.) Liegt solch grobem Unsinn ein gänzlich mangelhaftes Textverständnis zugrunde? Oder treibt er ein Späßchen mit seinem Publikum, indem er ihm ungeniert falsche „Informationen“ unterjubelt? Wie auch immer: Das Ergebnis ist und bleibt unseriöse „Wissenschaft“.
Unbestimmtheit des Begriffes –
ohne Konsequenz
Immerhin weist Dammann ausdrücklich auf die Unbestimmtheit des Begriffes Narzissmus hin:
„Allein bei Freud finden sich 14 verschiedene begriffliche Verwendungen (Altmeyer 2000).“ Und: „‚Das, was wir gemeinhin Narzissmus nennen, ist wohl eines der wichtigsten, aber auch eines der verwirrendsten, dunkelsten und kontroversesten Konzepte der Psychoanalyse‘ (Müller-Pozzi 2006)“.
Diese Beobachtung ist für den Psychoanalyse-Gläubigen allerdings kein Grund, für die Abschaffung des Narzissmus-Konzepts zu plädieren.
Fazit
Die Verständnislosigkeit, die Dammann dem Mythos und der Begriffsgeschichte entgegenbringt, schlägt sich wohl auch in seiner Praxis nieder.
Bei ihm ist seine Empathielosigkeit und Inkompetenz im Umgang mit PatientInnen nachhaltig belegt. Aus einem entsprechenden Fallbeispiel habe ich hier ausgiebig zitiert. Dammann demonstriert dort ein völlig verständnisloses Umgehen mit einem Therapieopfer.
Literatur
Dammann, Gerhard & Gerisch, Benigna (2005): Narzisstische Persönlichkeitsstörung und Suizidalität: Behandlungsschwierigkeiten aus psychodynamischer Perspektive, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 156, 6, 299-309 (online)
Dammann, Gerhard (2012): Narzissmus – Wichtige psychodynamische Konzepte und ihre Auswirkungen auf die klinische Praxis. In: Dammann, Gerhard; Sammet, Isa; Grimmer, Bernhard: Narzissmus. Theorie, Diagnostik, Therapie. Stuttgart, Kohlhammer
Ellis, Havelock (1898): Auto-Erotism: A Psychological Study. In: The Alienist and Neurologist, 1898, 19, 260-299
Renger, Almut-Barbara (Hg.) (1999): Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig, Reclam
Wieseler, Friedrich (1856): Narkissos. Eine kunstmythologische Abhandlung nebst einem Anhang über die Narcissen und ihre Beziehung im Leben, Mythos und Cultus der Griechen. Göttingen, Dieterich (online)