
Michael Ermann und Narziss: Narzissmus
Die Macht des Schicksals
Michael Ermann (* 1943) ist emeritierter Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität München. (Hier seine Webseite.) Michael Ermann und Narziss: Nach Ermann stellt Ovid in der Geschichte von Narziss eine Betrachtung über die Macht des Schicksals an. Das ist durchaus nicht verkehrt, und es verhält sich so – richtig verstanden – nicht nur bei Ovid, sondern auch bei Pausanias, Konon, Probus, Pomponius Sabinus und anderen Mythografen: Narziss leidet insofern an seinem Schicksal, als ihm geliebte Menschen verloren gehen und sich ihm ungeliebte Menschen massiv und nachhaltig aufdrängen.
Vernünftig klingt auch Ermanns Aussage, dass „die Gleichsetzung Narziss gleich (verwerfliche) Selbstliebe vereinfachend“ sei. „Sie ist in dieser Form auch in keiner Version des Mythos enthalten und wahrscheinlich erst durch Überlagerungen mit christlichen Werten im Mittelalter entstanden.“ So weit, so gut.
Dann jedoch folgt Ermanns Glaubensbekenntnis:
„Es geht hier nicht um Selbstliebe, sondern um die Projektion von Selbstaspekten auf den vermeintlichen Anderen, um eine Beziehungsform, die wir heute als Beziehung nach dem Typus der narzisstischen Objektwahl bezeichnen. In ihr zeigt sich die Sehnsucht nach einer Beziehung mit größtmöglicher Übereinstimmung mit dem Subjekt.“
Größtmögliche Übereinstimmung?
Der Inhalt von diesem Gefasel von Ermann erschließt sich mir zwar nicht, aber es stimmt auf jeden Fall mit den unverständlichen Auslassungen Freuds von 1914 überein.
Wenn aber bei Narziss in Bezug auf Beziehungen die „größtmögliche Übereinstimmung“ so wichtig sein soll: Warum – bitteschön – fühlt sich Narziss dann zwar mit seiner Zwillingsschwester auf’s Engste verbunden, will aber von der Nymphe, die ihm exakt alles nachplappert, oder von dem Kerl, der exakt sein Geschlecht besitzt, nichts wissen?
Leben und Tod
„Im Fluss gezeugt, stehen die Selbstspiegelung des Narziss und sein Tod in Beziehung zum Element seiner Zeugung, dem Wasser, und damit zu seinen Eltern, der Quellnymphe und dem Flussgott. Man kann sagen, er kehrt mit dem Tod zu den Eltern zurück“.
Diesen vernünftigen Gedanken könnte Ermann fast wörtlich meinem Beitrag von 2008 (S. 443) entnommen haben, den er jedoch nur in gänzlich unwichtigem Zusammenhang zitiert.
Ringen um homoerotische Tendenzen, Begierden ohne Halt
Wie seine berühmten Vorläufer – Isidor Sadger, Otto Rank & Sigmund Freud – ist sich auch Ermann sicher:
„In der Zurückweisung des Ameinios und der Übergabe des Schwertes kann man ein Ringen mit homoerotischen Tendenzen vermuten (…).“
Ja, in psychoanalytischen Lehrbüchern wird das Hantieren mit Dolchen und Schwertern gerne als Ausdruck homosexueller Impulse gedeutet. Da kann dann bloß kein Jüngling der Antike mehr einen Päderasten in kodifizierter Art zurückweisen (vgl. die 7 Varianten des Mythos – dort: „Die Sache mit dem Schwert“), ohne sich gleichzeitig als schwul zu outen – „unbewusst“ natürlich.
Echo
Und Echo erscheint „als der zerbrochene Spiegel, der Begierden weckt, aber keinen Halt gibt, sie zu befriedigen und verarbeiten.“ Ja, so erklärt sich Ermann, warum Narziss mit der nachplappernden Nymphe keine Beziehung eingehen möchte. Dass man schon nach wenigen Momenten in ihrer Gesellschaft wahnsinnig werden muss, das scheint sich ihm nicht zu erschließen.
Und noch eine – von Marshall McLuhan entlehnte – viel zu komplizierte Konstruktion, um sich Narziss’ Abweisung der Echo zu erklären:
„Indem er sein Selbst im Spiegel des Wassers erweitert, gerät er in einen Zustand der Narkotisierung, in dem Echo ihn nicht mehr erreichen kann.“
Was immer das heißen möge. Jedenfalls hatte Narziss in dem Moment, als er vor Echos – sehr wohl verstandenem – hohlen Geplapper schnellstens Reißaus nahm, NICHT narkotisiert in irgendeinen Teich gestarrt. (Er war damals im Wald auf der Suche nach seinen Freunden, die er bei der Jagd aus dem Auge verloren hatte.)
Anfälligkeit für einen Fake-Mythos
Auch Ermann fällt auf den Fake-Mythos von Wikipedia herein:
„Eine andere Version stammt von Pausanias (…), der die Selbstliebe des Jünglings Narziss noch stärker betonte. Danach verweilte er an einem See und erfreute sich seines im Wasser gespiegelten Antlitzes. Als durch göttliche Fügung ein Blatt herabfiel und das Spiegelbild trübte, starb Narziss durch die Erkenntnis seiner vermeintlichen Hässlichkeit.“
Einen Hinweis, welcher Quelle er diese vermeintliche Weisheit verdankt, gibt Ermann nicht.
Begriffsbewusstsein
Michael Ermann und Narziss
In der Beschäftigung mit dem Mythos von Narziss ist Ermann ganz auf Ovid reduziert, auf dessen Subtilität sie jedoch in keiner Weise eingeht. Obwohl er meinen Artikel in seiner Literaturliste anführt – über den ihm die Vewrsionen mit Zwillingsschwester, Vater, Mutter, Ameinias und Ellops bekannt gewesn sein müssten – erwähnt er dies nicht. Vielmehr zeichnet er sich noch zusätzlich durch eine unbefangene Übernahme des Narkissos-Fake-Mythos von Wikipedia aus.
Michael Ermann und die Begriffsgeschichte des Narzissmus
Ermann referiert zwar den Ursprung des Begriffes Narzissmus über Havelock Ellis, Paul Näcke, Isidor Sadger und Otto Rank bis Sigmund Freud und weit darüber hinaus – bis Kohut und Kernberg. Jedoch problematisiert er in keiner Weise das, was sich zwischen diesen „Fachleuten“ an Widersprüchen in ihren Auffassungen ergibt.
Fazit
Ermann hat sich auf die Fahnen geschrieben, Menschen vor dem „Feind an ihrer Seite“ zu beschützen. Für die Not des armen Narziss, der da so massiv zu einer Beziehung erpresst werden sollte, hat sie jedoch keinerlei Verständnis. Sie verkennt diese relativ übersichtliche fiktive (Lebens-)Geschichte vollkommen. Da wird sie auch reale Menschen mit ihren sehr viel komplexeren Geschichten und Nöten wohl weder wirklich verstehen, noch effektiv gegen Grenzüberschreitungen und Manipulation schützen können.
Literatur
Ermann, Michael (2020): Narzissmus. Vom Mythos zur Psychoanalyse des Selbst. Stuttgart, Kohlhammer