
Narkissos
Der Altphiolologen Friedrich Wieseler liefert bereits im Jahr 1856 in seinem Buch (Untertitel: Eine kunstmythologische Abhandlung nebst einem Anhang über die Narcissen und ihre Beziehung im Leben, Mythos und Cultus der Griechen), erschienen bei Dieterich, Göttingen, die wohl bedeutendste Quelle zum Mythos von Narziss mit einem umfassenden Überblick über die verschiedenen Varianten.
Das Original ist hier im Netz zu finden.
Der Text ist durch etliche lateinische und griechische Zitate nicht immer leicht zu lesen. Jedenfalls für Menschen, die mit diesen alten Sprachen nicht vertraut sind. Trotzdem versteht man auf den ersten ca. 6 Seiten sehr gut, was der alte Mythos eigentlich sagen will.

Deutungsaspekte
bei Wieseler
Die Inhalte des Mythos – wie sie durch die Sammlung von Wieseler dargelegt werden – sind hier als „Narziss in sieben Varianten“ ausführlicher beschrieben. Wer damit noch nicht vertraut ist, sollte sich dies am besten zunächst einmal in Ruhe durchlesen, um die folgenden Ausführungen besser verstehen zu können.
Das Leiden an der Vergänglichkeit
Die Deutung der ersten vier Varianten des Narziss-Mythos, nämlich als Symbol für das Leiden an der Vergänglichkeit geliebter Angehöriger bzw. von sich selbst, wird auch gespiegelt in einer antiken Lebensweisheit, mit der uns Wieseler (S.9) folgendermaßen vertraut macht:
„Artemidoros sagt: ‚das im Wasser sich im Spiegel Sehen kündet Tod vorher dem, der sich gesehen hat, selbst oder einem seiner nächsten Angehörigen.‘ Diese Worte beweisen, dass man den nach seinem Bilde im Wasser schauenden Narkissos als ein vornehmliches Symbol des Todes betrachtete.“
Die innere Logik liegt meines Erachtens auf der Hand. Früher oder später wird jeder sein eigenes Leben verlieren oder erleben, dass ein ihm ähnlich sehendes, eng verbundenes Familienmitglied stirbt. Das nicht festzuhaltende Spiegelbild im Wasser mag den Menschen beim Betrachten daran erinnern.
Liebe und Leben vs.
Erstarrung und Tod
In einem anderen Zusammenhang referiert Wieseler:
„Den Alten im Allgemeinen gilt Narkissos als Repräsentant harter Sprödigkeit, eitler oder kalter Selbstliebe, aber auch lobenswerther Enthaltsamkeit.“
Er gibt diese Sichtweise der „Alten“ auf die angebliche Sprödigkeit und kalte Selbstliebe des Narziss zwar wieder, im weiteren Verlauf lässt er jedoch erkennen, dass er – abgesehen von der „lobenswerthen Enthaltsamkeit“ – deren Sichtweise nicht für plausibel hält. Wieseler weiß ja um das enge Verhältnis des Narziss zu seinen Eltern und seiner Zwillingsschwester. So arbeitet er vielmehr dessen Bezug zu Schlaf, Vergänglichkeit und Tod heraus und betont dies als den zentralen Aspekt des Mythos.
Für Wieseler ist Narziss ein „Dämon des Schlafs oder Todes“. Dem Eros – verstanden als „die in Liebe vereinigende Kraft, welche in der Natur Leben hervorbringt“ – stehe Narziss wegen seines Bezugs zu dem „in kalter Gleichgültigkeit erstarrenmachenden oder auflösenden Tod in der Natur“ als „Gegenpart“ gegenüber.
Geburt und Tod
Narziss stirbt am Ort seines Ursprungs: an einer Quelle. Liebe, Zeugung, Geburt und Tod sind von der Natur der Sache her eng miteinander verknüpft. Die Gegensätze von Leben bzw. Liebe und Tod gehören unausweichlich zueinander. Wenn der Tod Jugendliche ereilt, die sich gerade zu Persönlichkeiten entfalten, wird das als besonders tragisch empfunden. Bereits darin zeigt sich eine Parallele zur Narzisse, die besonders schön ist, aber schon sehr früh im Jahresverlauf wieder zugrunde geht, wie Wieseler unterstreicht. Tatsächlich sei Narziss oft auf antiken Grabmälern dargestellt worden.
Narzisse und Narkose
Nach Wieseler (S.78ff) erschließt sich eine zentrale Bedeutung des Mythos auch über die Eigenschaften der Narzisse. Er sieht, anders als andere Autoren, diesen Zusammenhang nicht als nebensächlich, sondern geht davon aus, dass „die Vorstellung des Jünglings durch die Eigenschaften der Blume angeregt sei“. Narzisse, Narkissos und Narkose sind miteinander verwandt, was nicht von ungefähr komme. Der Geruch der Narzisse habe „narkotische Wirkung [gehabt], in Sopor, also Unempfindlichkeit versetz[t]“. [Die Narzisse enthält das für Menschen und Tiere giftige Alkaloid Lycorin, konzentriert vor allem in der Blumenzwiebel.]
Wieseler weiter:
„Der Name des Wesens [ist] auch der des Symbols dieses Wesens. Dieser Name hängt ohne Zweifel mit νάςκη, ναςκᾶν, zusammen, Wörtern, die in der Griechischen Sprache hauptsächlich von den Wirkungen des Frostes, des Schreckens, der Ohnmacht, des Todes gebraucht werden. Dass die Narcisse diesen Namen von ihrer betäubenden Kraft habe, wird mit Recht allgemein angenommen.“
[νάςκη (narke) = Tiefschlaf, Erstarrung; ναςκᾶν (narkân) = erstarren, erlahmen]
Ein Beiname des Narziss, so Wieseler, sei „Schweiger“ gewesen; die Römer hätten ihre Toten „‚die Schweigenden’ (silentes)“ genannt.
Den Griechen galt die Narzisse, die nach seinem Tod aus ihm hervorgegangen sein soll, als Blume der Unterwelt und war Persephone eweiht. Persephone, Tochter der Göttin Demeter, war von Hades, dem Gott der Unterwelt, dorthin entführt worden. Demeter hatte aus Trauer und Protest kein Getreide mehr wachsen lassen; dadurch erwirkte sie am Ende, dass ihre Tochter während zwei Dritteln des Jahres in der Oberwelt verweilen durfte; für ein Drittel des Jahres (im Winter; die alten Griechen unterschieden nur drei Jahreszeiten) musste sie in die Unterwelt zurückkehren. Sie verkörpert also das Werden und Vergehen im Rhythmus der Jahreszeiten bzw. das Weiterleben der Natur in ihren Überwinterungsformen, bei der Narzisse zum Beispiel in Form einer im Erdreich geborgenen Zwiebel.
Neuere Quellen
Aus neuerer Zeit liegen zwei sehr umfangreiche Textsammlungen vor, die sich mit den Spuren des Narziss-Mythos in der Literatur beschäftigen. In ihnen finden sich etwa dieselben Quellen, die auch Wieseler zitiert. Darüber hinaus präsentieren sie noch sehr viel mehr Texte zum Thema aus späteren Jahrhunderten.
1.) Ursula & Rebekka Orlowsky (1992)

2.) Almut-Barbara Renger (1999)

Otto Rank
Otto Rank greift 1911 in seinem „Beitrag zum Narzissismus“ (in: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, 1911, S.401-426) auf den Text von Wieseler zurück. Er tut allerdings so, als hätte er Wieseler nicht verstanden und verfälscht markant dessen Aussagen. Dies führe ich hier näher aus.
Literatur
Orlowsky, Ursula & Rebekka Orlowsky (1992): Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. München, Wilhelm Fink
Rank, Otto (1911): Ein Beitrag zum Narzissismus. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, 1911, S.401-426
Renger, Almut-Barbara (Hg.) (1999): Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig, Reclam
Wieseler, Friedrich (1856): Narkissos. Eine kunstmythologische Abhandlung nebst einem Anhang über die Narcissen und ihre Beziehung im Leben, Mythos und Cultus der Griechen. Göttingen, Dieterich