Wilfried Gottschalch und Narziss bzw. Narzissmus (1988)

Abbiöld des Buchcovers "Narziß und Ödipus" von Wilfried Gottschalch (1988)
Buchcover von Wilfried Gottschalch „Narziß und Ödipus“ (1988)

Gottschalch und Narziss: Narziss und Ödipus

Dieses Buch trägt den Untertitel: Anwen­dung der Narzißmus­theorie auf soziale Konflikte. Gottschalch und Narziss: ein offenbar zwiespältiges Verhältnis. Er offenbart zunächst für einen kurzen Moment seine positive Sicht auf Narziss und den Narzissmus. Dann jedoch schließt er sich dem Mainstream-Missverständnis und einer unverständlichen psychoanalytischen Phraseologie an. Dabei bemüht er sich sogar noch, das Unverständliche daran zu entschuldigen.

Narzissmus = unverletzbares Selbstwertgefühl?

Wilfried Gottschalch lässt im Vorwort zu seinem Buch – einer Sammlung von verschiedenen Aufsätzen, die das Thema Narzissmus umkreisen – eine interessante Äußerung fallen:  In der Mitte der siebziger Jahre habe er einmal gesagt, es erscheine ihm

„für einen guten Psychoanalytiker keine Eigenschaft so nötig (…) wie die eines durchwachsenen Narzißmus, womit ich seinerzeit ein nahezu unverletzbares Selbstwertgefühl meinte.“

Tatsächlich ist es im Grunde genau dieses „nahezu unverletzbares Selbstwertgefühl“, das einen guten Teil der Charakterzüge des jungen Narziss ausmacht. Gottschalch hatte sich offenbar intuitiv – und nicht beeinflusst von irgendwelcher Fachliteratur – eine passende Vorstellung von Narzissmus gebildet: ein klares, unbestechliches Selbstwertgefühl. Diese Sicht hat er jedoch wenig später, wie die übrigen Ausführungen seines Textes beweisen, ad acta gelegt.

Bezug auf den Mythos

„Wer war Narziß? Was erzählen die griechischen Mythen von ihm?“

Gottschalch hat den sinnvollen Anspruch, die Antworten auf diese beiden Fragen zu liefern. Unter Bezug auf Ovid berichtet er von den Eltern, von der Frage Liriopes an den Seher (dem er fälschlicherweise den Namen „Tethys“ gibt). Ebenso bezieht er neben der Begegnung mit Echo ausdrücklich die Version von Ameinias und der Zwillingsschwester mit ein. Die Versionen mit Mutter und Vater bzw. mit Ellops führt er hingegen nicht an. Auch Wieseler wird nicht als Quelle genannt.

Gottschalch und Narziss bzw. Narzissmus

Dann aber deutet Gottschalch:

„Wir können in den Mythen von Narziss mehrere Merkmale des Narzißmus wahrnehmen: Die Bedeutung des Wassers als Hinweis auf Phantasien von der Rückkehr in den Mutterleib, die extreme und destruktive Selbstbezogenheit, der Glaube an die Allmacht der Worte – der Fluch hat die gewünschten Folgen, die Probleme der narzißtischen Liebeswahl und die Nähe zum Wahn.“

Woraus erschließt Gottschalch bei Narziss das Vorliegen von „Phantasien über eine Rückkehr in den Mutterleib“? Sollte hierin ein zentrales Menschheitsproblem liegen? Und will er ihm hiermit den Ödipuskomplex unterjubeln? Woraus schließt der Autor das alles?

Und wenn er von der engen Verbundenheit mit der Zwillingsschwester weiß: Wie kann er da von einer „extremen und destruktiven Selbstbezogenheit“ sprechen?

Da ihm auch, umgekehrt, bekannt ist, dass Narziss das Liebesbeghehren eines Mannes zurückweist: Ist auch das für ihn „extreme und destruktive Selbstbezogenheit“? Und was genau ist mit den „Problemen der narzißtischen Liebeswahl“ gemeint? Ist es problematisch, Liebe zur verstorbenen Schwester bzw. zu den verloren gegangenen Eltern zu empfinden? Ist es problematisch, von unsympathischen Verehrern und Verehrerinnen nichts wissen zu wollen? Was will uns der Autor mit seinen Worten sagen? Wie sollen sie uns dabei helfen, irgendetwas besser zu verstehen?

Begriffsbewusstsein

Wifried Gottschalch und Narziss

Gottschalch bezieht sich – verglichen mit anderen AutorInnen – sogar in relativ umfangreicher Weise auf den Mythos. Er weiß um die Zwillingsschwester und um Ameinias. Seinem vollmundigen Anspruch – „Wer war Narziß? Was erzählen die griechischen Mythen von ihm?“ – wird er dennoch nicht wirklich gerecht. Seine knappen Deutungen orientieren sich ganz an der traditionellen Verständnislosigkeit.

Wilfried Gottschalch und die Begriffsgeschichte des Narzissmus

Gottschalch verzichtet gänzlich auf Hinweise zur verqueren Entstehungsgeschichte des Begriffs. Er zitiert jedoch eine Passage aus Freuds Selbstdarstellung von 1925, in der Freud – wie schon in seiner Abhandlung zum Narzissmus – in die Offensive geht:

„Sigmund Freud hielt in der Psychologie klare Grundbegriffe und scharf umrissene Definitionen ebenso wie in den Naturwissenschaften nicht nur für überflüssig, sondern auch für unmöglich. ‚Zoologie und Botanik haben nicht mit korrekten und zureichenden Definitionen von Tier und Pflanze begonnen, die Biologie weiß noch heute den Begriff des Lebenden nicht mit sicherem Inhalt zu erfüllen. (…) Die Grundvorstellungen oder obersten Begriffe der naturwissenschaftlichen Disziplinen werden immer zunächst unbestimmt gelassen, vorläufig nur durch den Hinweis auf das Erscheinungsgebiet erläutert, dem sie entstammen, und erst durch die fortschreitende Analyse des Beobachtungsmaterials klar, inhaltsreich und widerspruchsfrei werden‘ (GW XIV, S. 84). Was Freud hier für die Psychologie und die Naturwissenschaften sagt, gilt auch für die Sozialwissenschaften, wo diese nicht in dogmatische Glaubenslehren verwandelt werden.“

Hier scheint Gottschalch – in Anlehnung an Freuds Augenwischerei – eine Aufteilung vornehmen zu wollen. Es gibt einerseits die „guten“ = undogmatischen Sozialwissenschaften, in denen „klare Grundbegriffe“ für „überflüssig (…) und unmöglich“ gehalten werden. Und es gibt die „bösen“ = „dogmatischen“ Sozialwissenschaften, die nur „dogmatische Glaubenslehren“ zu bieten haben.

Aber müssen nicht gerade Wissenschaften mit unklarem Begriffsinventar zwangsläufig zu einer reinen Glaubenslehre verkommen?

Fraglos liegt es in der Natur von Wissenschaft, dass junge Begriffe zunächst deutlich undifferenzierter sind. Doch nach Jahrzehnten ihres Bestehens sollten sie an Format und Klarheit gewonnen haben. Sonst haben sie ihren wissenschaftlichen Zweck verfehlt. Wahr-Nehmungen, die mit unklaren Begriffen beschrieben werden, müssen geradezu zwangsläufig verzerrt und somit falsch sein. Sie können eigentlich nur in unüberprüfbaren, substanzlosen Phrasen münden.

Literatur

Freud, Sigmund (1925): Selbstdarstellung. In: GW, Bd. 14 (Reprint von 1955), S.33-96, London, Imago Publishing

Gottschalch, Wilfried (1988): Narziß und Ödipus. Anwen­dung der Narzißmus­theorie auf soziale Konflikte. Heidelberg, Ro­land Asanger Verlag