Reinhard Haller und Narziss bzw. Narzissmus (2013)

Buchcover von "Die Narzissmusfalle" von Reinhard Haller (2013), Ecowin-Verlag
Buchcover von Reinhard Haller: „Die Narzissmusfalle“ (2013)

Reinhard Haller und Narziss: Die Narzissmus-falle

Das Buch des Gerichtssachverständigen und Psychiaters Reinhard Haller trägt den Untertitel: Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntni). Reinhard Haller und Narziss: Er versucht zwar, sich dem Mythos zu nähern, offenbart jedoch gegenüber dem echten antiken Mythos ein gehöriges Maß an Verständnislosigkeit, die ihn zu Fehldeutungen führt, die er bei sorgfältigerem Nachdenken hätte vermeiden können.

Der Ausgangspunkt: affektloser Vater Kephisos

Wenn Haller sich der Geschichte von Narziss nähert, dann beginnt auch er – wie etliche seiner KollegInnen – mit der Geschichte der Eltern:

„Narzissus (…) war der Sohn der Nymphe Leiriope und des Flussgottes Kephissos. Dieser hatte die Schöne in seinen Sog gebracht und tat der in den Wellen Gefangenen Gewalt an. Hernach floss er weiter und ließ die Schwangere allein zurück.“

Hier könnte Haller von Maaz abgeschrieben haben, der in Hallers Literaturliste auftaucht.

Grundlage der weitreichenden Schlussfolgerungen, die Haller ableitet, bietet eine im heutigen Sinne verstandene „Vergewaltigung“ Liriopes durch Kephisos. (Hier gilt es, eine Übersetzung zu problematisieren. Das habe ich in einem Sonderkapitel ausführlich dargestellt.) Kephisos soll danach unbekümmert und affektlos weitergeflossen sein und eine alleinerziehende Mutter zurückgelassen haben. Haller geht davon aus, dass kein Kontakt mehr zwischen Vater und Sohn existiert habe.

Diese Elemente werden zunehmend zum festen Bestandteil der neueren Umdichtung des Mythos. Dabei findet sich in keiner einzigen antiken Mythos-Variante irgendein verwertbarer Hinweis auf ein gestörtes Vater-Sohn-Verhältnis. Es wird eher das Gegenteil angedeutet.

Mythos Marke Eigenbau …

Haller, der zu Beginn seines Buches die „Rückkehr zum Mythos“ anmahnt, hat sich eine Problemgeschichte zusammengeschustert, bei der kein einziges Originalzitat als Beleg mehr angeführt ist. Seine zahlreichen Unterstellungen sind aus der antiken Literatur nicht abzuleiten bzw. widersprechen dieser förmlich:

„Angesprochen werden die Beziehungsprobleme der Eltern, die gewalttätige und ungewollte Zeugung, die Broken-Home-Situation sowie die Ängstlichkeit und Überfürsorglichkeit einer alleinerziehenden Mutter. Wir werden informiert über Gefährlichkeit von Selbsterkenntnis und Prognosen. Wir finden im Mythos die folgenschweren Auswirkungen fehlender emotionaler Resonanz und autistischer Abkapselung, die Tragik beziehungsunfähiger Persönlichkeiten und das zerstörerische Potenzial kränkender Zurückweisungen – auch das ist Narzissmus. (…) In der Geschichte von Narziss lassen sich alle Elemente der krankhaften ‚Selbstliebe‘ erkennen: extreme und ausschließliche Ausrichtung auf die eigene Person, Empfindlichkeit gegen Kränkungen jeglicher Art, Mangel an Einfühlungsvermögen in andere und Entwertung der Mitmenschen.“

… vs. antike Quellen

Narziss ist kein Mensch, der an „autistischer Abkapselung“ leidet. Neben den Unternehmungen mit seinen Freunden (er geht mit ihnen auf die Jagd) oder mit seiner Zwillingsschwester (sie werden als unzertrennlich geschildert) nimmt er sich lediglich selbstbewusst heraus, Beziehungsangebote abzulehnen. Insofern kann auch nicht von einer „fehlenden emotionalen Resonanz“ die Rede sein, weil die klar formulierte Ablehnung eben diese „emotionale Resonanz“ darstellt. Dass sie Echo, Ameinias und Ellops nicht in den Kram passt, steht auf einem anderen Blatt.

Zudem sind Trauer und Verzweiflung über den Tod der Zwillingsschwester bzw. über den Verlust von Vater und Mutter ebenfalls eine – noch dazu angemessene„emotionale Resonanz“ auf das Geschehen. Es kommt zwar zu einer „Ausrichtung auf die eigene Person“, diese ist jedoch keineswegs „extrem und ausschließlich“. Das belegen die berichteten Verhältnisse des 16-Jährigen zu Zwillingsschwester, Eltern und Freunden. Und „Mangel an Einfühlungsvermögen“ ist nichts, was an Narziss zu beanstanden wäre, wohl aber an seinen Widersachern – Echo, Ameinias und Ellops.

Kein Gespür für Stalking

Noch einmal Haller:

„Der schöne Jüngling wird von allen bewundert und begehrt. Jeder sucht seine Gunst und seine Freundschaft, alle wollen seine Liebe, Mädchen und Jungen gleichermaßen. (…) Aber er kann diese Gefühle weder erfassen, noch erwidern, es fehlt ihm die emotionale Resonanz. Narziss leidet unter Gefühlsmangel, unter emotionalen Defiziten, er ist mit einem Wort liebesunfähig. Heute würde man ihn wohl als emotionalen Analphabeten bezeichnen.“

Hat Haller noch nie von Stalking und den teils dramatischen Folgen für die Opfer gehört? Darf es nicht gerade ein 16-Jähriger als überaus anstrengend erleben, wenn er „von allen bewundert und begehrt“ wird? Muss Narziss denn alle Gefühle, die ihm irgendjemand entgegenbringt, auch „erwidern“? Ist es berechtigt, ihm deswegen „Gefühlsmangel“ zu bescheinigen? Würde Haller all jene Prominenten, die sich von zudringlichen Fans abzugrenzen verstehen, als „emotionale Analphabeten“ bezeichnen? Meiner Ansicht nach sollte man ihnen eher ein Kompliment dafür machen, wenn sie achtsam mit ihren eigenen Bedürfnissen umgehen.

Schon erstaunlich, wie ein Professor für Psychiatrie ernsthaft solche Analyse verfassen kann …

Plumpes Echo als Liebesgeständnis?

Bei Haller liest man:

„Er aber [Narziss; K.S.] zeigte sich unberührbar und hartherzig, ließ niemanden zu sich heran und widerstand jeder Annäherung. Besonders verliebt hatte sich in ihn die Nymphe Echo, welche verflucht war, nur nachsprechen zu können. Als sie Narzissus ihre Liebe gestand, wies er sie mit den Worten ‚Eher will ich sterben, als dir gehören!‘ schroff zurück.“

Haller macht hier aus dem ziemlich stupiden Monolog des Narziss mit Echo (vgl. den Mythos bei Ovid) ein „Liebesgeständnis“, das Narziss „schroff“ zurückgewiesen habe. Diese Mythos-Lesart werden beispielsweise von Merzeder und Bonelli freudig aufgegriffen und entwickelt so nach und nach eine eigenständige Existenz.

Aber kann der Monolog mit Echo, der von Narziss ausgeht, ernsthaft als Liebesgeständnis der Nymphe durchgehen? Was mag Haller dazu bewogen haben, das hohle Geplapper so zu verstehen? Ist die schroffe Zurückweisung nicht völlig berechtigt, das genervte Abwenden des Narziss nicht vielmehr konsequent und souverän?

Absurde Unlogik

Selbst dort, wo ein winziger Abgleich mit dem Mythos erkennen ließe, wie absurd Hallers Ausführungen sind, bemerkt er selbst anscheinend gar nichts:

„Die Geschichte teilt uns ferner mit, wie sich Narzissten mit Jasagern umgeben, mit Personen, welche zufrieden sind mit dem Abglanz ihres Idols, sich diesem völlig unterwerfen und sonst weder eigene Bedürfnisse noch eigene Meinungen haben. Dafür steht die alles nur nachsprechende Echo. Sie symbolisiert jenen Personentyp, welchen der Narzisst am liebsten um sich weiß: Menschen, die nur ständig seine eigenen klugen Worte und einzigartigen Sprüche wiederholen und ihn kritiklos bewundern.“

Und wie, werter Herr Haller, erklären Sie uns dann, dass der Narziss aus dem Mythos gerade vor solch einem Menschen, den „der Narzisst am liebsten um sich weiß“, der „seine (…) eigenen Worte und Sprüche (…) wiederholt“, so schnell und so eindeutig Reißaus nimmt?

Verschweigen der Männer

Haller mag seinen Abriss des Mythos von Maaz abgeleitet haben, der es vor ihm ganz ähnlich formuliert. Haller:

„Der heranwachsende Narzissus wurde von allen bewundert und verehrt. Er war der Schwarm aller Mädchen, viele Burschen warben um seine Freundschaft.“

Dass diese „Burschen“ nicht nur um „Freundschaft“ geworben hatten, sondern offenbar um eine sexuelle Beziehung, das scheint mir nicht ganz unwichtig zu sein. Warum verschweigt Haller dies seinen LeserInnen?

An späterer Stelle wiederum bleibt Haller – im Unterschied zu Maaz – dem Original immerhin treu:

„Nachdem Narzissus zahlreiche andere Liebeswerber enttäuscht hatte, schwor einer der Verschmähten: (…).“

Maaz hatte hier das Ovidsche Original dreist feminisiert.

Absichtserklärung …

Bei Haller finden wir zu Beginn seiner Abhandlung zumindest eine Absichtserklärung:

„Wollen wir das Wesen des Narzissmus begreifen, ist eine Rückkehr zum Mythos unumgänglich. Nicht zu Unrecht steht die Geschichte des schönen, sich in sein eigenes Spiegelbild verliebenden, an der suchtartigen Selbstliebe zerbrechenden, gottähnlichen Jünglings an der Spitze jeglicher Abhandlung über Narzissmus.“

und Wirklichkeit

Schade nur, dass Haller sein Versprechen nirgends ernsthaft eingelöst hat. Stattdessen bezieht er sich auf einen irgendwie erstellten Abriss. Und wenn er am Ende schreibt, es gebe die Geschichte von Narzissus (…) in mindestens sieben Versionen, erläutert er dies doch mit keiner einzigen Silbe. Auch lässt er im Dunklen, auf welche Quelle er sich hier bezieht. Dabei kenne ich keinen Beitrag neben meinem von 2008, der ausdrücklich von sieben Versionen spricht. Da dieser Artikel jedoch Hallers Auffassung fundamental widerspricht, hätte er ihn wohl nur höchst ungern zitiert.

Anfälligkeit für
Fake-Mythen

Auch Haller hat sich als anfällig für Fake-Mythen erwiesen. In seinem Buch „Nie mehr süchtig sein“ (2017) heißt es:

„Als er am See saß und sich an seinem Spiegelbild ergötzte, wurde die Wasseroberfläche auf göttliche Fügung hin durch ein herabfallendes Blatt getrübt. Weil Narziss glaubte, hässlich zu sein, fiel er in eine tiefe Depression und verstarb. Nach seinem Tod wurde er in eine Narzisse verwandelt.“

Wo auch immer Haller diese Version abgeschrieben hat (das hat er hier nicht kenntlich gemacht): Ihren Ursprung hat diese Version jedenfalls in der deutschen Wikipedia. Und es ist klar, dass diese Version einen Fake-Mythos darstellt. Das habe ich an anderer Stelle ausführlich beschrieben. Vermutlich war Haller – mit seiner schlechten Meinung von Narziss – allzu gerne bereit, diese unsinnige Erzählung über Narziss für bare Münze zu nehmen.

Begriffsbewusstsein

Mythenrezeption

Trotz seiner selbst angemahnten „Rückkehr zum Mythos“, macht Haller hierum einen riesigen Bogen. Die Trauer des Narziss um seine verlorene Zwillingsschwester klammert er aus, ebenso dessen Suche nach Vater und Mutter. Dasselbe mit der für Narziss tödlichen Ablehnung des sexuellen Begehrens von Ellops.

Begriffsgeschichte

Zur bizarren Entstehungsgeschichte des Begriffes verliert Haller kein Wort.

Fazit

Haller beweist anhand einer kleinen, übersichtlichen Geschichte ein erschreckendes Ausmaß von Unverständnis. Wer ein solches Missverstehen einer fiktiven Geschichte unter Beweis stellt, der wird gegenüber realen, sehr viel komplexeren Lebensgeschichten wohl kaum ein angemessenes Verständnis aufbringen können.

 

Literatur

Haller, Reinhard (2013): Die Narzissmusfalle. Anlei­tung zur Menschen- und Selbst­­kennt­nis. Wals bei Salzburg, Eco­win Verlag

Haller, Reinhard (2017): Nie mehr süchtig sein. Leben in Balance. Wals bei Salzburg, Eco­win Verlag

Maaz, Hans-Joachim (2012): Die narzisstische Ge­sell­schaft. Ein Psycho­gramm. München, CH Beck