Abbildung von Isidor Sadger – gefunden unter
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Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absencen
In diesem Aufsatz von 1910 greift Isidor Sadger erstmals für die psychoanalytische Gemeinschaft den von Näcke geschaffenen Begriff Narzissmus auf.
Verliebtheit … in die eigenen Genitalien
Er versteht darunter die „Verliebtheit … in die eigenen Genitalien“ und sieht dies als ein allgemeines menschliches Entwicklungsstadium. Hieraus entwickele sich die Homosexualität. Narzissmus finde sich also besonders bei Homosexuellen. Damit kommt Sadger in eindeutigen Widerspruch zu Ellis und Näcke. Auch der Mythos erzählt genau vom Gegenteil: Narziss lehnt homosexuelle Beziehungsangebote ausdrücklich ab. Das stört Sadger jedoch nicht.
Die psychologische Mittwoch-Gesellschaft
In der Wiener Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft treffen sich seit 1902 die überwiegend ärztlichen Anhänger Sigmund Freuds zum fachlichen Austausch. Am 10.11.1909 stellt Isidor Sadger dort eine seiner Arbeiten vor. Freud ist – was nicht oft vorkommt – mit den Leistungen dieses Schülers höchst zufrieden:
„Neu und wertvoll scheine die Bemerkung Sadgers, die sich auf den Narzissmus beziehe. Dieser sei keine vereinzelte Erscheinung, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe des Übergangs vom Autoerotismus zur Objektliebe. Die Verliebtheit in die eigene Person (= in die eigenen Genitalien) sei ein notwendiges Entwicklungsstadium. Von da gehe man zu ähnlichen Objekten über.“
So ist es im (publizierten) Protokoll dieser Sitzung zu lesen. Eine der frühesten belegten Begebenheiten, bei denen Freud den Begriff „Narzissmus“ verwendet hat. Die Bemerkung zeigt damit auch, wie Freud den Narzissmus damals verstanden hat.
Homosexualität = Narzissmus
Sadger analysiert in dieser Arbeit die Neurose eines seiner Patienten sowie dessen Homosexualität. Letzere trete, so Sadger 1910 (S.111f), …
„… in der Regel und jedenfalls am stärksten in der Pubertät zutage, für unsere Breiten also mit 10 oder 11 Jahren. (…) Bezeichnend ist auch, daß in den homosexuellen Idealen neben den Zügen der bisher hetero- wie homosexuell Geliebten auch die eigene Person ganz deutlich in den Vordergrund tritt und in einer Reihe von Eigentümlichkeiten unzweifelhaft Verwendung findet.“
Von dieser Vorüberlegung gelangt Sadger nun zum Narzissmus als ein allgemeines Entwicklungsstadium:
„Wir sind hier bei einem ganz neuen Punkte, der für das Ganze der Inversion mir entscheidend dünkt: der Weg zur Homosexualität führt nämlich stets über den Narzismus [sic], d.h. die Liebe zum eigenen Ich. Das konnte ich in all’ meinen Fällen nachweisen[,] und auch Freud hat mir dies über meine Frage von seinen Urningen bestätigen können. Der Narzismus ist nun nicht etwa ein vereinzeltes Phänomen, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe beim Übergang vom Autoerotismus zur späteren Objektliebe. Die Verliebtheit in die eigene Person, hinter welcher sich die in die eigenen Genitalien verbirgt, ist ein nie zu fehlendes Entwicklungsstadium. Von da erst geht man später zu ähnlichen Objekten über. (…) Der Urning kommt von sich selber nicht los, das ist sein Verhängnis.“
Das Schwein, der Mensch
Sadger schreibt wenige Seiten später (1910, S.115):
„Das Kind ist ja nach dem treffenden Ausspruch von Professor Freud ‚polymorph pervers’. Das ist nun genau das Bild unseres Grafen[Sadgers Fall von Narzissmus; K.S.], der eigentlich äußerst wenig sublimierte und dasselbe Schwein geblieben [ist], welches er als Kind physiologisch war.“
Der Mensch ist also – für die psychoanalytische Schule – von Geburt an ein Schwein. Wer nicht rechtzeitig seine Schweinereien wie Narzissmus = Homosexualität loslässt oder „sublimiert“, der entwickelt im späteren Leben psychische Auffälligkeiten und Störungen.
Fazit
Der Urheber des Begriffes Narzissmus, Paul Näcke, versteht darunter ein sehr seltenes Phänomen, bei dem das „Betrachten des eigenen Ich’s oder seiner Theile von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist“. Er grenzt es ausdrücklich von Homosexualität ab.
Der Repräsentant der frühen Psychoanalyse Isidor Sadger macht nun hingegen daraus eine „notwendige Entwicklungsstufe“ bzw. ein „nie zu fehlendes Entwicklungsstadium“ – nämlich die „Verliebtheit (…) in die eigenen Genitalien“. In dieser Form habe der Narzissmus eine große Nähe zur Homosexualität: „Der Urning kommt von sich selber nicht los, das ist sein Verhängnis.“
Das Missverstehen zwischen den Urhebern des Narzissmus-Begriffs, Ellis und Näcke, war ja bereits offensichtlich genug. Sadger verstärkt nun diese Verwirrung, indem er die ursprüngliche Definition unbekümmert in ihr Gegenteil verkehrt.
Literatur:
Nunberg, Hermann; Federn, Ernst (Hg.) (1976-1981): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (Bd. I-IV): Frankfurt a.M., S. Fischer Verlag
Sadger, Isidor (1910): Ein Fall von multipler Perversion mit hysterischen Absencen. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung, 1910, 59-133