Narzissmus und Opferbeschuldigung – Julian Assange

Narzissmus und Opferbeschuldigung – Julian Assange

Narzissmus: Ein Falschwort, das der Manipulation dient

Die Inhaftierung von Julian Assange ist eine der unsäglichen Untaten, die sich in unserer Zeit abspielen. Und offenbar gibt es nicht allzu viele wirksame Möglichkeiten, an dieser schmierigen Inszenierung der Mächtigen etwas zu ändern. Es müsste schon zu einem Sturm auf diese Bastille kommen, in der Julian Assange – offensichtlich unschuldig – einsitzt.

Diese verabscheuungswürdige Verschwörung möchte ich zum Anlass nehmen, um auf einen kleinen Nebenaspekt aufmerksam zu machen. Einmal mehr trägt eine vor über 100 Jahren begonnene Vorarbeit zum Zweck der Indoktrination und Propaganda ihre Früchte. Es geht um die Manipulation des öffentlichen Bewusstseins – mit dem Begriff „Narzissmus“.

Nils Melzer erklärt die Hintergründe der Verhaftung von Julian Assange

Das hier verlinkte Interview für das Internet-Journal „Republik“ vom 31.01.2020 sei dringend zur Lektüre empfohlen! Darin erklärt der UNO-Sonder­berichterstatter für Folter, Nils Melzer, seine ursprüngliche Abneigung gegen Julian Assange: „Wir wissen plötzlich alle, dass er ein Vergewaltiger ist, ein Hacker, Spion und Narzisst.

Ist Julian Assange ein Vergewaltiger?

Sicherlich ist rein faktisch nicht in jedem Fall eines entsprechenden Tatverdachts leicht zu klären, ob es bei einem sexuellen Kontakt zu einer „Vergewaltigung“ gekommen ist oder nicht. Im Fall von Julian Assange scheint es jedoch eindeutig zu sein. Nils Melzer stellt es ausführlich, klar und präzise dar. Julian Assange bekam mit übelster Absicht etwas „angehängt“. Hierbei wurde massiv manipuliert. Mittels eines verschwörerischen Netzwerks, mit propagandistischer Raffinesse – unter Einbindung der willfährigen Medien – wurde auf breiter Ebene Stimmungsmache betrieben. Das hat zunächst sogar gut funktioniert: Selbst Nils Melzer war – wie er offen zugibt – zunächst gegen Julian Assange in dieser Frage eingenommen.

Nach Melzers Recherchen, die er im Interview ausführlich präsentiert, ist jedoch klar: Julian Assange ist in Bezug auf die ihm in Schweden vorgeworfene Vergewaltigung völlig UNSCHULDIG!

Ist Julian Assange ein Narzisst?

Das Melzer-Interview belegt einmal mehr die dringende Notwendigkeit, gegen eines der irrsinnigsten Falschwörter der Menschheit zu Felde zu ziehen: gegen den sogenannten Narzissmus.

Dieser völlig ungeklärte und geradezu widersinnige Begriff Narzisst dient einem englischen Richter zur „Begründung“ seines Urteilsspruchs gegen Julian Assange. Im Melzer-Interview lesen wir über die Situation vor Gericht: „Assange hatte nur 15 Minuten Zeit, sich mit seinem Anwalt vorzubereiten. Das Verfahren selber dauerte ebenfalls 15 Minuten. (…) Assange hatte während der Verhandlung nur einen Satz gesagt: «I plead not guilty.» (auf Deutsch: Ich plädiere auf nicht schuldig.) Der Richter wandte sich ihm zu und sagte: «You are a narcissist who cannot get beyond his own self-interest. I convict you for bail violation.» (auf Deutsch: Sie sind ein Narzisst, der nur an seine eigenen Interessen denkt. Ich verurteile Sie wegen Verletzung der Kautionsauflagen.)“

Wo liegt der Urspung des Begriffs Narzissmus?

Die Begriffsschöpfung erfolgte aus einem Missverständnis zwischen dem britischen Sexualforscher Havelock Ellis und dem deutschen Psychiater Paul Näcke in den Jahren 1898/99. Im Grunde war von Anfang an zwischen diesen beiden umstritten, was mit „Narcismus“ eigentlich gemeint sein sollte.

Die zunächst noch relativ harmlose Verwirrung hatte sich im weiteren Verlauf der Begriffsgestaltung durch die psychoanalytische Schule Sigmund Freuds dann noch ins Vielfache gesteigert. Es finden sich bis heute etliche Fachbeiträge, die die Unklarheit dieses Begriffes beklagen.

Bei all dem Durcheinander und den nicht aufzulösenden Widersprüchen bleibt nichtsdestotrotz im Allgemeinen mit „Narzissmus“ eine Sammlung höchst unsympathischer Eigenschaften verbunden: Egozentrismus, fehlende Einfühlung, Selbstgefälligkeit, Dominanz, Rücksichtslosigkeit, …

Aber von welcher Geschichte leitet sich denn dieser Begriff überhaupt ab?

Wer genau war eigentlich Narziss?

Den LeserInnen von etlichen meiner Beiträge ist der Mythos in seinen sieben Versionen vielleicht längst vertraut: Narziss ist ein Jugendlicher (16 Jahre), der beim Blick in den Wasserspiegel an seine über alles geliebte, kurz zuvor verstorbene Zwillingsschwester erinnert wird. Oder an seinen verlorenen Vater. Oder an seine (verlorene?) Mutter. Darum versucht er, sein Spiegelbild im Wasser verzweifelt und vergeblich festzuhalten. Genauso vergeblich versucht er, sich selbst festzuhalten. Er ist sich also der eigenen Endlichkeit und der Endlichkeit geliebter Angehöriger bewusst und leidet daran.

Oder aber Narzis leidet, weil ihm die hohle Nymphe Echo eine Beziehung aufdrängen will und auf seine berechtigte Abfuhr mit Magersucht reagiert. Oder er leidet, weil auch Ameinias unbedingt mit ihm eine Beziehung haben möchte, Narziss aber entweder generell nicht auf Kerle steht oder jedenfalls für diesen keine Sympathien aufbringt. Ameinias nimmt sich daraufhin auf der Türschwelle des Narziss das Leben und schreit im Sterben nach Rache. Das „Schicksal“ von Echo und Ameinias bewegt dann – seltsamerweise – die Göttin Nemesis dazu, Narziss zu bestrafen. (Ovid hat diese Bestrafung offensichtlich nur augenzinkernd und ironisch als „gerechtfertigt“ ausgegeben.) In einer weiteren Variante muss Narziss leiden, weil er mit einem zweiten Kerl, mit Elllops, ebensowenig eine Beziehung haben möchte. Ellops tötet deswegen den Narziss.

Insgesamt erzählt der Mythos also von den verschiedenen Möglichkeiten, an sozialen Beziehungen zu leiden: Man kann unter dem Verlust geliebter Menschen leiden. Und man kann an psychischer oder physischer Gewalt leiden, ausgeübt von aufdringlichen Menschen, denen man eine Abfuhr erteilt hat.

Und was genau IST eigentlich ein Narzisst?

Der oben genannte Havelock Ellis bezeichnet 1898 das intensive Betrachten von sich selbst im Spiegel als „narziss-artige Tendenz“. Bei diesem Phänomen sei jedes sexuelle Gefühl „absorbiert“. Er hatte bei einer einzigen Person eine solche „narziss-artige Tendenz“ beobachtet. Sie habe keinerlei Intersse am anderen Geschlecht gezeigt und sei ebensowenig homosexuell gewesen. Ellis subsumiert seine Beobachtung allerdings unter Randerscheinungen des Autorotismus. Diesen wiederum versteht er als eine sich von selbst einstellende sexuelle Erregung.

Diesen Widerspruch versucht wohl Paul Näcke 1899 aufzulösen, indem er definiert: Man könne nur da „mit Fug und Recht“ von „Narcismus“ sprechen, wo „das Betrachten des eigenen Ichs oder seiner Theile von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet“ sei. Das ist die allererste Definition für das Phänomen „Narcismus“.

Näcke und Ellis sind sich immerhin darin einig sind, dass sie diesen „Narcismus“ von Homosexualität abgrenzen und ihn als sehr seltene Erscheinung auffassen. Die psychoanalytische Schule definiert hingegen im Jahr 1910, dass „Narzissmus“ ein allgemeines menschliches Entwicklungsstadium darstelle – die Säuglingszeit. Sie sei durch eine „Verliebtheit in die eigenen Genitalien“ charakterisiert, welche sich wiederum speziell bei erwachsenen Homosexuellen zeige. „Der Urning kommt von sich selber nicht los. Das ist sein Verhängnis.“ So Isidor Sadger damals im Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung.

Sigmund Freud „definiert“ schließlich 1914: Schizophrene und Größenwahnsinnige, Kinder und Primitive, Perverse und Homosexuelle sowie Frauen und Mütter seien die Personen, die sich besonders durch „narzisstisches Verhalten“ auszeichneten. (Freud unterstreicht: Hierin komme natürlich keinerlei Abwertungstendenzen gegenüber dem weiblichen Geschlecht zum Ausdruck. Es seien lediglich wissenschaftliche Beobachtungen.) Dass der Narziss aus dem Mythos in keine einzige von Freuds Kategorien passt, stört die Fachwelt bis heute kein bisschen.

Systematische Opfer-Täter-Umkehr – auch im Fall von Julian Assange

Der selbst-bewusste, liebenswerte Narziss aus dem Mythos setzt sich klar für seine eigenen Bedürfnisse ein. Er stellt damit so ziemlich genau das Gegenteil von dem dar, was der Begriff „Narzissmus“ heute bezeichnen soll. Am ehesten ließen sich Echo, Ameinias und Ellops als „Narzissten“ im klassisch-missratenen Sinne bezeichnen. Narziss leidet an diesen aufdringlichen Menschen. Er selbst, das eigentliche Opfer, wird jedoch zum Täter erklärt.

In meiner Praxis habe ich Menschen kennengelernt, die als die Opfer von Schicksal und Gewalt mit dem Begriff „Narzissmus“ oder „narzisstisch“ von „Fachleuten“ ratzfatz zu TäterInnen erklärt worden waren. Solche Opfer-Täter-Umkehrungen lassen sich auch aus der Fachliteratur ablesen.

Das Beispiel von Julian Assange und dem englischen Richter offenbart die Gefährlichkeit dieser pseudowissenschaftlichen Terminologie. Gerade vor Gericht zeigt sich das immer wieder.

Den Begriff „Narzissmus“ oder „narzisstisch“ kann geradezu beliebig jedem Menschen attestiert werden. Irgendwelche Tatbestände müssen gar nicht näher begründet werden. Auf jeden Fall werden diffuse Ressentiments gegenüber derart benannten Menschen ausgelöst. Ihnen gegenüber hält man sich besser auf Distanz. Das ist uns in über einhundert Jahre alter Gehirnwäsche eingeimpft worden.

Auf dieser Webseite – narzissmus-diskussion.de – will ich diese Thematik vertiefen. Ermuntert zur Teilnahme am Austausch seien neben allen allgemein Interessierten insbesondere auch alle diejenigen, die selbst von einer solchen Opfer-Täter-Umkehr-Diagnostik betroffen sind/waren.