Narzissmus und Opferbeschuldigung – Mia aus Kandel
Die an anderer Stelle ausführlicher vorgestellten Psychoanalytiker Hyman Spotnitz und Philip Resnikoff (1954) sind die ersten, die die Erzählung zum Tod des Narziss durch den abgewiesenen Liebhaber Ellops kennen – und die Schuld dafür dem Narziss zuschieben. Das verdeutlicht sehr klar den Zusammenhang zwischen Narzissmus und Opferbeschuldigung.
Die Ellops-Variante des Narziss-Mythos legt m.E. nahe, dass solche Verbrechen – Morde an Menschen, die sich „Beziehungswünschen“ anderer verweigern – schon in der Antike existierten. Und sie existieren bis in unsere Tage, wie das Beispiel von Mia aus Kandel zeigt.
Nun aber die Sicht der Fachleute: Nach Spotnitz und Resnikoff ist …
… „bemerkenswert, dass Narziss, ein hübscher Jugendlicher mit der Fähigkeit, in anderen Schaulust hervorzurufen, dazu tendierte, aggressive Impulse in denjenigen auszulösen, die mit ihm sexuelle Beziehungen haben wollten.“
Ist denn dem Narziss tatsächlich eine auf seiner Seite zu verortende „Tendenz“ zu attestieren, „aggressive Impulse in denjenigen auszulösen, die mit ihm sexuelle Beziehungen haben wollten“? Diese „aggressiven Impulse“ hatte Narziss bei Ellops „ausgelöst“, weil er – in gesundem Selbst-Bewusstsein – dem Ellops nicht sexuell willfährig sein wollte. Würden diese Fachleute denn dem Narziss raten, seine problematischen Tendenzen dahingehend zu bearbeiten, dass er sich bei entsprechenden Avancen halt nicht so zieren solle?

Emilio Modena
Ein anderer „Spezialist“, der die Verantwortung für den Ausgang der Begegnung zwischen Ellops und Narziss bei Narziss selbst sucht, ist der schweizer Psychoanalytiker Emilio Modena. (Seine Position von 1983 habe ich hier ausführlicher dargestellt.) Auch Modena lässt ein Verständnis für das Gewaltopfer Narziss vermissen.
Modena schreibt: „das gemeinsame Motiv [der diversen Mythos-Varianten scheint] in der Bestrafung des Jünglings für seine Sprödigkeit zu liegen. Narkissos zog es vor, auf die Jagd zu gehen und in den Wäldern umherzustreifen, statt dem Liebesgott zu dienen: er war ein Wilder, ein Rebell. Und wenn man weiß, daß in seiner Heimat Thespeia in Böotien die Knabenliebe allgemeiner Brauch war – Eros war dort als wichtige Gottheit gefeiert –, kann man verstehen, daß die erwachsenen Männer gekränkt sein mußten, als gerade ein Jüngling von ausgesuchter Schönheit ihnen seine Dienste versagte.“
Ellops verdient also, in seinem Gekränkt-Sein verstanden zu werden. Es ist doch wirklich ärgerlich, dass ein so besonders schöner Jüngling ihm „seine Dienste versagte“. [Ironie off!] Die daraus resultierende Gewalt des Ellops scheint für Modena geradezu folgerichtig zu sein.
Verallgemeinerung?
Wie sähe es wohl aus, wenn man die Empfehlungen dieser „Fachleute“ – Spotnitz, Resnikoff ud Modena – auf Gesellschaften übertragen würde, in denen (noch) heterosexuelle Beziehungen „allgemeiner Brauch“ sind? Was würden die Experten denn den wohl vorzugsweise besonders hübschen, jungen, weiblichen Menschen raten, die in anderen – wohl vorzugsweise männlichen Menschen beliebiger Schönheitsgrade und aller Alterstufen – sexuelle Beziehungswünsche auslösen? Etwa so?
„Stellt euch doch nicht so dran! Ruft halt zu Hause an und sagt, ihr kämt heute ein bisschen später. Ihr hättet noch eine Einladung zum Bumsen bekommen und ihr wolltet eure Tendenz bekämpfen, in denen, die euch sexy finden, Aggressionen auszulösen.“
Manchem selbstwertgestörten Männchen würde solch eine Regelung, wenn sie sich denn in der Welt durchsetzen würde, sicherlich wie die Erfüllung eines wunderschönen Traumes erscheinen. Und vermutlich würde auch das eine oder andere Frauenzimmer solch eine Regelung gerne für sich in Anspruch nehmen.
Man könnte ja dann mal diejenigen, die mit solchen „Liebeswünschen“ beglückt worden sind, zu ihren Erfahrungen befragen: Ob sie denn jetzt ihre Tendenz, in anderen Aggressionen auszulösen, besser im Griff hätten? Und ob es denn wirklich so schwierig sei, ihr emotionales Analphabetentum aufzugeben und sich den Liebesgefühlen anderer zu öffnen?
Mia aus Kandel – sie hat den Mörder „narzisstisch gekränkt“
Am 27.12.2017 war die 15-jährigen Mia aus Kandel von solch einem Ellops ermordet worden. Tags darauf stellte der Sozialpädagoge Dr. Andreas Dexheimer in einem Beitrag für FOCUS-online fest: Mias Mörder habe – offenbar durch Mias Verhalten – eine „narzisstische Kränkung“ erlebt.
Macht das nicht perfekt deutlich, wie Narzissmus und Opferbeschuldigung zusammengehören ? Dem fiktiven 16-jährigen Narziss ist durch Ellops genau dasselbe passiert wie der realen 15-jährigen Mia. Der Name des antiken (fiktiven) Opfers dient heute jedoch dazu, einen modernen (realen) Täter zu benennen: „Der Täter ist ein Narzisst!“ Oder: „Er ist narzisstisch gekränkt!“ Demnach hat Mia, das Opfer, also dem Täter diese „Kränkung“ zugefügt. Sie hat ihn also „krank gemacht“. Damit ist sie indirekt zur Täterin geworden.
Wenn schon in diesem Fall der Narziss-Mythos für eine Analogie bemüht wird, dann wäre hier allein passend zu sagen: „Der Täter war ellopsistisch gestört!“ Nichts anderes.
Eigenverantwortung oder Verbrechen?
Solche Verbrechen, so meine Deutung, gab es schon vor weit mehr als 2000 Jahren. Diese Erfahrung spiegelt sich in der Ellops-Variante des Mythos. Die klare Täter-Opfer-Dynamik wird allerdings von Spotnitz & Resnikoff bzw. von Modena auf den Kopf gestellt. Sie philosophieren über die „Rolle der Aggression in der Beziehung zu Objekten“ – und zwar auf der Seite des Narziss – und darüber, dass „man verstehen [kann], daß die erwachsenen Männer gekränkt sein mußten“. Dabei problematisieren diese Fachleute allein das (angebliche) Fehlverhalten von Narziss, dem Objekt der Gewalt. Bei dem antiken Probus steht hingegen ganz klar Ellops im Vordergrund – als Subjekt der Gewaltausübung, als Verbrecher.
Worin liegt bei solch dramatischen Konflikten das Problem? Ist es angebracht, sich auf ein neoliberales „Selbst schuld!“ zu beschränken? Geht es vor allem um die Frage: Was haben die Opfer (Narziss/Mia) dazu beigetragen, dass es so weit kam?
Mir scheint jedenfalls notwendig, in den Fällen von Narziss und Mia begriffliche Klarheit zu schaffen und so gut es geht Täter- und Opferseite klar auseinander zu halten. Es geht hier eindeutig um spezifische, nicht zu bagatellisierende, unmissverständlich zu benennende Verbrechen. Es geht keinesfalls um „die bemerkenswerte Tendenz von attraktiven Menschen, aggressive Impulse in jenen auszulösen, die mit ihnen sexuelle Beziehungen haben wollen“ oder um ein „Verständnis“ für erwachsene Männer, denen besonders schöne jugendliche „Liebesobjekte“ ihre Dienste versagen.
Literatur
Dexheimer, Alexander (2017): Messerattacke in Kandel. Nach Mord an 15-Jähriger: Pädagoge gibt Einblick in Psyche des Täters. Interview mit Alexander Dexheimer. Veröffentlicht auf FOCUS-online am 28.12.2017
Modena, Emilio (1983): Unter dem Banner des Narzißmus. Gedanken zu einem psychoanalytischen Bestseller. In: Die neuen Narzißmustheorien: zurück ins Paradies? Hrsg. vom Psychoanalytischen Seminar Zürich, Red. Gabi Döhmann-Höh. Frankfurt a.M., Syndikat (S.151-164)
Spotnitz, Hyman & Resnikoff, Philip (1954): The Myths of Narcissus. In: The Psychoanalytic Review, 41, 2 , S.173-181