… und die Narzissmus-Theorie
Hyman und Spotnitz
Die Psychoanalytiker Hyman Spotnitz und Philip Resnikoff (1954) kennen die Erzählung zum Tod des Narziss, wonach er durch den abgewiesenen Liebhaber Ellops getötet worden sei. Nach ihnen sei diese Version nur ein Glied in einer Kette von Varianten, die sich durch eine „zunehmende Internalisierung und Assimilierung eines externalen Objekts“ unterscheiden:
„In der einfachsten Version des Mythos, der Probus-Version, wird Narziss von einem zurückgewiesenen Verehrer getötet (…). In der Konon-Version zerstörte Narziss sich selbst, weil er bereute, was er Ameinias angetan hatte. In der Pausanias-Version stirbt Narziss, weil er sich nach einer Schwester sehnte, die so war wie er. In der Ovid-Version starb Narziss, weil er nicht genug Selbstliebe von seinem Abbild bekommen konnte.“
Dieses zunehmend internalisierte „externale Objekt“ habe „wegen Narziss’ sexuell erregenden und dennoch frustrierenden und mitleidlos zurückweisenden Verhaltens ein Todesurteil über ihn“ gefällt. Und:
„Bemerkenswert, dass Narziss, ein hübscher Jugendlicher mit der Fähigkeit, in anderen Schaulust hervorzurufen, dazu tendierte, aggressive Impulse in denjenigen auszulösen, die mit ihm sexuelle Beziehungen haben wollten.“
Eine Frage
Ist es denn wirklich sinnvoll, die in Variante 7 geschilderte Ermordung des Narziss durch Ellops wegen mangelnder sexueller Willfährigkeit unter dem Aspekt eines nicht „internalisierten und assimilierten externalen Objekts“ zu betrachten? Sollten wir hier nicht von der Perspektive eines konkreten, üblen Verbrechens ausgehen? Auch Spotnitz und Resnikoff dürften gewusst haben, dass Menschen bisweilen getötet werden, weil sie sich dem Beziehungsbegehren eines anderen nicht willfährig unterwerfen.
Mia aus Kandel
So war es geschehen am 27.12.2017 im Fall der 15-jährigen Mia aus Kandel. Tags darauf stellte der Sozialpädagoge Dr. Alexander Dexheimer in einem Beitrag für FOCUS-online fest, dass ihr Mörder eine „narzisstische Kränkung“ erlebt habe.
Ist das nicht grotesk? Dem fiktiven 16-jährigen Narziss ist durch Ellops genau dasselbe passiert wie der realen Mia. Der Name des antiken Opfers dient heute jedoch dazu, einen Täter zu charakterisieren. „Der Täter ist ein Narzisst!“ Oder: „Er ist narzisstisch gekränkt!“ Demnach hat Mia, das Opfer, also dem Täter diese „Kränkung“ zugefügt. Sie hat ihn also „krank gemacht“. Damit ist sie indirekt zur Täterin geworden.
Wenn schon in diesem Fall der Narziss-Mythos für eine Analogie bemüht wird, dann wäre hier allein passend zu sagen: „Der Täter war ellopsistisch gestört!“ Nichts anderes.
Verbrechen oder Eigenverantwortung?
Solche Verbrechen, so meine Deutung, waren schon vor weit mehr als 2000 Jahren bekannt. Auch in einer Variante des Mythos von Narziss haben sie sich niedergeschlagen. Diese klare Dynamik wird allerdings von Spotnitz und Resnikoff beiseitegeschoben. Stattdessen philosophieren sie über die „Rolle der Aggression in der Beziehung zu Objekten“. Dabei problematisieren sie hauptsächlich das (angebliche) Fehlverhalten von Narziss, dem Objekt der Gewalt. Bei dem antiken Probus steht hingegen viel deutlicher Ellops im Vordergrund – als Subjekt der Gewaltausübung, als Verbrecher.
Worin aber liegt bei solch einem Konflikt das eigentliche Problem? Ist es etwa angebracht, sich auf ein neoliberales „Selbst schuld!“ zu beschränken? Geht es vor allem um die Frage: Was haben die Opfer (Narziss/Mia) dazu beigetragen, dass es so weit kam? Mir scheint jedenfalls sinnvoll, in so einem Fall begriffliche Klarheit zu schaffen.
Aus meiner Sicht geht es hier um ein spezifisches, nicht zu bagatellisierendes, unmissverständlich zu benennendes Verbrechen. Es geht keinesfalls um ein unzureichend internalisiertes Objekt oder „die bemerkenswerte Tendenz von attraktiven Menschen, aggressive Impulse in jenen auszulösen, die mit ihnen sexuelle Beziehungen haben wollen“.
Literatur
Dexheimer, Alexander (2017): Messerattacke in Kandel. Nach Mord an 15-Jähriger: Pädagoge gibt Einblick in Psyche des Täters. Interview mit Alexander Dexheimer. Veröffentlicht auf FOCUS-online am 28.12.2017
Spotnitz, Hyman & Resnikoff, Philip (1954): The Myths of Narcissus. In: The Psychoanalytic Review, 41, 2 , S.173-181