Narziss – Produkt einer Vergewaltigung?

Narziss –
ein Kind von Flussgott und Quellnymphe

Der römische Autor Ovid ist bei den diversen Varianten des Mythos von Narziss der einzige Autor, der sich näher über die Zeugung des Narziss äußert. Seine Aussagen hierzu müssen wohl mit Vorsicht interpretiert werden. Zum einen ist es nicht allzu leicht zu interpretieren, wenn in der antiken Darstellung gesagt wird: Kephisos [hat] gegenüber der Liripope „vim tulit“ [= Gewalt ausgeübt, seine Kraft, Männlichkeit dargebracht]. Gerade dann, wenn diese vermeintliche Vergewaltigung zwischen einem Flussgott und einer Quellnymphe abläuft, sind bei der Beurteilung der Verhältnisse die Folgewirkungen zu berücksichtigen. Hier – in diesem Beitrag – beschäftige ich mich mit dieser Thematik. Darüber hinaus ist wohl ein genauerer Blick auf den Autor und die politischen Verhältnisse seiner Zeit sinnvoll, um seine Erzählung in ihrem vermutlich ironisch gemeinten Sinn verstehen zu können.

Kephisos und Liriope –
die Eltern des Narziss

Ovid nennt den Flussgott Kephisos [ein Fluss in Böotien] und die Quellnymphe Liriope als Eltern des Narziss. Diesen zwei Wesen, die mit dem Wasser – also einem zentralen Element des Lebens – eng verbunden sind, wird ein prächtiger Knabe geboren:

„Ein Kind gebar aus dem schwangeren Schoß die wunderschöne Nymphe, das damals bereits man hätt lieben können, und nennt es Narkissus.“

Nach einer anderen Version entstammt dieser Quelle auch ein prächtiges Mädchen, die Zwillingsschwester von Narziss.

Wasser –
der Ursprung des Lebens

In frühester Menschheitsgeschichte wurden Schwangerschaften tatsächlich bisweilen auf das Baden in einem Fluss zurückgeführt (Ranke-Graves, S.13). Und zu alten Hochzeitsbräuchen gehörte es, der Braut ein rituelles Bad zu bereiten. Dem Wasser bzw. Baden wurde also eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Lebens beigemessen. In einer spärlich mit Wasser versorgten Gegend wie Griechenland wird ein Fluss vermutlich per se als lebensspendend verstanden worden sein.

Kephisos und Delphi

Die Tempelanlage von Delphi mit ihrem Orakel galt in der Antike über die Grenzen Griechenlands hinaus als besonders heiliger Ort. Im Wasser der Quelle Kastalia mussten sich die Besucher einer rituellen Reinigung unterziehen, bevor sie die Weissagungen empfingen. Nach antiker Vorstellung (Pausanias, S.214) sei „das Wasser für die Kastalia ein Geschenk des Flusses Kephisos“. Von diesem Wasser zu trinken sollte Dichtergabe verleihen. (Hatte Ovid womöglich während seiner Griechenlandreise davon gekostet?) Ausgeschlossen, dass der Gott Kephisos in der Antike jemals als Bösewicht gegolten hätte.

Die Zeugung des Narziss

Zur Zeugung des Narziss heißt es bei Ovid kurz und knapp: „die blaue Liriope, die Cephisos einstmals in der Flusskrümmung umschlungen und der in seinen Wellen Eingeschlossenen … vim tulit.“ [Caerula Liriope, quam quondam flumine curvo implicuit clausaeque suis Cephisos in undis vim tulit.]

Vim afferre …

Das Wort „vis“ (Akk.: „vim“) bedeutet „Gewalt, Kraft, Stärke“. Das „tulit“ ist grammatikalisch die 3. Person Singular Indikativ Perfekt von „ferre“, wobei „ferre“ folgende Bedeutungen haben kann: tragen, ertragen, bringen, schenken, jmd. etwas entrichten, weihen, darbringen, antragen, anbieten, einbringen, hervorbringen, erzeugen. „Tulit“ heißt also: „er (sie, es) hat getragen, angetragen, entrichtet, geweiht, dargebracht …“ So könnte „vim tulit“ wörtlich übersetzt heißen: jemandem Kraft, Stärke darbringen, weihen, antragen.

… = vergewaltigen?

Allerdings wird „vim (af)ferre“ gemeinhin mit „Gewalt antun, vergewaltigen“ übersetzt. Meine Nachfrage bei verschiedenen altphilologischen Experten hat diese Übersetzung ausdrücklich bestärkt.

Angesichts des breiten Bedeutungsspektrums von „vis“ und „ferre“ scheint mir jedoch folgende wörtliche Übertragung immerhin möglich zu sein:

„Der Flussgott Kephisos hat der in seinen Wellen umschlossenen Liriope seine Kraft (Vitalität, Männlichkeit) dargebracht, angetragen, entrichtet, geweiht …“

Vis bei Ovid

Weitere Überlegungen, beispielsweise zur Rolle von „vis“ in der erotischen Welt des Ovid, lassen es aus meiner Sicht problematisch erscheinen, an dieser Stelle den Begriff „Vergewaltigung“ zu verwenden.

(Damit ich nicht missverstanden werde: Es geht mir keineswegs darum, eine Vergewaltigung zu verharmlosen. Genauso wenig soll jedoch mit dem Vorwurf einer Vergewaltigung leichtfertig umgegangen werden. Schon in manchen antiken Mythen führt der unberechtigte Vorwurf, vergewaltigt worden zu sein, zur grausamen Bestrafung Unschuldiger. Es geht mir hier um den Versuch, die Bedingungen bei der Zeugung des Narziss angemessen zu würdigen.)

Übersetzungsalternativen

Johann Heinrich Voß

Johann Heinrich Voß (1751-1826) übersetzte diese Stelle übrigens folgendermaßen:

[Liriope], die einst in gekrümmeter Wallung rings Cephisos umhegt’, und in bergenden Wogen ihr Brautbett wölbete.“

Ursula und Rebekka Orlowsky

Orlowsky & Orlowsky machen sich m. E. eine gänzlich unangemessene Vorstellung von dieser Übersetzung, wenn sie schreiben (S.23f):

„Nicht nur, daß bei Voß Passiv und Aktiv solange undeutlich bleiben, bis erhellt [?; K.S.], daß Liriope Cephisos liebevoll umsorgt, dann selbst ihr Brautbett bereitet und den Flußgott ins Bett zieht: es muß scheinen, die Nymphe umhegte Cephisos überhaupt nur, um ihn zu verführen und zum Beischlaf zu verlocken.“

Anscheinend interpretieren die die Autorinnen Voß so, dass Liriope als aktives Subjekt den Cephisos umhegt hätte, anstatt von ihm als passives Objekt umhegt worden zu sein. Sie hätte ihm dann als aktives Subjekt das Brautbett „gewölbet“. Das ist nicht plausibel, weil im Lateinischen Subjekt (Cephisos) und Objekt (Liriope – quam) eindeutig zu identifizieren sind. Es wäre auch inhaltlich abwegig, sich vorzustellen, eine Quellnymphe hätte einen mächtigen Flussgott „rings umhegt“ – und nicht umgekehrt. Im Deutschen lässt rein grammatikalisch die Übersetzung von Voß tatsächlich beide Lesarten zu, inhaltlich jedoch nicht. Das Subjekt (Cephisos) aus dem vorangehenden Satz „die [Akk.] einst … Cephisos umhegt’“ kann als dasselbe im anschließenden Satz ergänzt werden: „und [der] in bergenden Wogen … wölbete.“

Einsatz für Gewaltopfer? Natürlich!

Es ist bei den Autorinnen an dieser und folgenden Stellen herauszuhören, dass sie sich – zu Recht! – vehement für Menschen einsetzen, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Das bringt sie jedoch dazu, hier in den antiken Mythos Dinge hineinzulegen, die dort in dieser Bestimmtheit m. E. nicht zu finden sind. Ich persönlich bevorzuge jedenfalls für diese Passage eine andere Deutung.

Friedrich Wieseler

Bei Friedrich Wieseler heißt es lediglich:

„Die Nymphe Leiriope gebar vom Flussgotte Kephissos einen schönen Knaben und nannte ihn Narkissos.“

Trenscényi-Waldapfel

Ähnlich unbestimmt spricht Imre Trenscényi-Waldapfel von der Nymphe Liriope als „Gemahlin des Flusses Kephisos“, der „ein herrliches Söhnchen geboren [war], Narkissos“.

Vis = Kraft, Männlichkeit, Leben

Nicht zu übersehen ist auch die Verwandtschaft von „vis“ (Gewalt, Kraft) und „vir“ (Mann) sowie „vita“ (Leben). Das mag damit zusammenhängen, dass Männer sich in patriarchalen Kulturen gerne eine ganz besonders wichtige Rolle beim Hervorbringen des Lebens beigemessen haben. Die männliche Selbstüberschätzung kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass es in ca. 2500 Jahre alten Bühnenstücken Athens das Bild existiert von dem Mann, der seinen Samen in die Ackerfurche der Frau legt – und damit als gewissermaßen zentrale Instanz neues Leben allein aus sich selbst hervorbringt.

So wird es erzählt im „Orest“ des Aischylos bzw. im „König Ödipus“ des Sophokles. Eine ähnliche Sichtweise findet sich in der biblischen Schöpfungsgeschichte, nach der aus der Rippe des Adam die Eva hervorgeht und danach deren beider weitere Abkömmlinge. Das erklärt auch, warum über Jahrtausende hinweg die Zeugung von „Stammhaltern“ so enorm wichtig war. In diversen Kulturen herrscht solch eine (absurde) Denkweise bis heute vor!

Widersprüche und Gegensätze in ein und demselben Wort

An dieser Stelle möchte ich auch zu bedenken geben, dass etliche Fremdworte aus dem Lateinischen abgeleitet sind, die für unsere heutige Ohren sofort negativ klingen, so zum Beispiel Aggression, Arroganz, Konkurrenz und Rivalität, obwohl sie ursprünglich äußerst vielschichtige, mitunter geradezu gegensätzliche Bedeutungen hatten.

Aggression

„Aggression“ leitet sich ab von „aggredi“ = „an etwas herangehen, an jemand herantreten“. Das ist keineswegs nur gewalttätig gemeint, sondern kann durchaus das freundliche Schreiben eines Briefes bedeuten. In diesem harmlosen Sinne verwendet es beispielsweise Sigmund Freud 1907 in einem Brief an Wilhelm Jensen (vgl. Schlagmann, 2012).

Arroganz

„Arroganz“ leitet sich ab von „arrogans“ = „anspruchsvoll“. Ein hoher Anspruch mag zwar zu „Hochnäsigkeit“ führen, kann aber auch mit Bescheidenheit einhergehen.

Konkurrenz

„Konkurrenz“ leitet sich ab von „concurrere“ = „zusammen laufen“. Das meint einerseits das gemeinsame Laufen beim Wettkampf, andererseits auch das gleichzeitige Laufen von zwei Rädern an der Achse eines Wagens. In letzterem Fall wäre es ziemlich problematisch, wenn ständig eines der Räder versuchen würde, das andere zu überholen: Ein solches Gefährt könnte niemals geradeaus fahren. Im Englischen heißt „concurrence“ übrigens: „Übereinstimmung“. Die Engländer haben sich also für diesen Aspekt des Zusammen-Laufens entschieden.

Rivalität

„Rivalität“ leitet sich ab von „rivus“ = „der Bach“, meint also ein „bachnachbarschaftliches“ Verhältnis. Das kann zwar Streitigkeiten wegen der Wasserrechte bedeuten, aber auch ein friedliches Neben- und Miteinander.

Dialektik

In alten Begriffen scheint also teilweise angelegt zu sein, dass das damit bezeichnete Verhalten nicht per se als gut oder schlecht anzusehen ist, sondern dass es von den jeweiligen Umständen abhängt. Insofern mag in der Antike bei dem Begriff „vim (af)ferre“ sowohl an eine schwer zu bestrafende Vergewaltigung gedacht worden sein wie auch an eine – vielleicht der Paarung im Tierreich vergleichbare, sprich triebgesteuerte – Darbringung von (sexueller) Lebenskraft und Männlichkeit.

Mögliche Missdeutung einer „Vergewaltigung“

In der jüngeren psychologischen Literatur zu Narziss dient die Fixierung auf eine vermeintliche „Vergewaltigung“ der Liriope durch Kephisos – im heutigen Sinne – jedenfalls dazu, weitreichende Spekulationen über problematische Sozialisationserfahrungen des Narziss anzuknüpfen – am ausführlichsten bei Eugen Drewermann. Hieraus wird zum Beispiel häufig auf zerrüttete Familienverhältnisse und die Abwesenheit des Vaters geschlossen. Daher ist mir die Überlegung, wie Ovid selbst über die Rolle von „vis“ in Liebesbeziehungen gedacht haben mag, sehr wichtig.

Die Beziehungsanbahnung bei Ovid

Der Ovid-Übersetzer Niklas Holzberg, der die Paarungssituation von Kephisos und Liriope ebenfalls mit „Vergewaltigung“ übersetzt, ist in Bezug auf weitergehende Interpretationen sehr klar (persönliche Mitteilung vom 09.08.18):

„Das ist aber ja auch vollkommen in Übereinstimmung mit den vielen Mythen über Sex von Göttern mit sterblichen Frauen: Da wird immer Gewalt angewandt. (…) Moderne Psychologie sollte hier sehr vorsichtig interpretieren. Denn wie spätestens seit Foucault bekannt ist, war der Geschlechterdiskurs in der Antike ein doch wesentlich von unserem verschiedener. Ich würde auch gar nichts auf die Narcissus-Geschichte von der Vergewaltigung her schließen – die ist, wie gesagt, ganz ‚normal‘.“

Ovid in seiner Zeit

In Ovids Mythensammlung „Metamorphosen“ findet sich deutlich, dass er erzwungene Verbindungen ablehnt. Seinerzeit war das eine mutige Stellungnahme, da sie den massiven Einmischungen des damaligen Kaisers Augustus in Beziehungsangelegenheiten widersprach. Mag sein, dass Ovid – diese kaiserlichen Anmaßungen anprangernd – gerade deshalb an der einen oder anderen Stelle die Gewaltsamkeit des Zustandekommens einer Beziehung hervorhebt, um sie dann zum Teil zu problematisieren.

Vim tulit = hat vergewaltigt?

Das „vim tulit“ des Ovid kann aus meiner Sicht nicht losgelöst von seinen sonstigen Positionen verstanden werden. Wird dies in Bezug auf den Kephisos, als er den Narkissos zeugt, mit „hat vergewaltigt“ übersetzt, löst dies in unserer Kultur – zu Recht! – sehr negative Emotionen und Gedanken aus. Es ließe unmittelbar an ein strafbares Vergehen denken. Solche Assoziationen sind aber, gerade bei der Paarung eines archaischen Flussgottes mit einer Quellnymphe, nicht zwangsläufig zutreffend. Insofern wäre es vielleicht sinnvoll, einen neutraleren Begriff für die Übersetzung zu suchen.

Vergewaltigung in der Natur?

Wenn ein junger Löwen-Mann einen alten Löwen-Pascha aus dessen Rudel vertreibt und die zuletzt geborenen Jungkatzen des Vorgängers tötet, damit die Löwinnen schneller wieder paarungsbereit sind, handelt es sich bei der dann folgenden Paarung um eine Vergewaltigung? Oder bringt der neue Rudelführer in dieser Situation seine männliche Kraft dar, ohne dass wir dies menschlich-moralisch beurteilen sollten? Oder, ist es eine Vergewaltigung, wenn ein Erpel sich ziemlich massiv einer Ente aufdrängt und es zur Begattung kommt?

Paarungsverhalten von Flussgöttern und Quellnymphen

Welchen Gesetzen folgen denn hier göttliche Wesen, noch dazu so elementare Gestalten wie ein Flussgott und eine Quellnymphe? Was genau ist über deren Paarungsverhalten bekannt? Und welches Verhalten zeigen sie gegenüber ihren Kindern? In den obigen Beispielen aus dem Tierreich ist jedenfalls sicher, dass sich beide Eltern bestmöglich um die Aufzucht des Nachwuchses kümmern werden.

„Vergewaltigung“ – Gegenwehr, negative Folgen

Da, wo Ovid in den Metamorphosen von gewaltsamen Götter-Paarungen erzählt, erwähnt er, wenn vorhanden, durchaus den Widerstand der Opfer. So bei Kallisto, einer Nymphe aus dem Gefolge der Göttin Artemis. Von ihrem Anhang erwartet die Herrin strikte Jungfernschaft. Zeus, der einmal die schöne Kallisto allein auf weiter Flur antrifft, nähert sich ihr in der Gestalt der Artemis und küsst sie zunächst unbeanstandet. Dann wird er immer zudringlicher, bis er sie schließlich – bei heftigster Gegenwehr – vergewaltigt. Als ihre Schwangerschaft ans Licht kommt, wird sie von Artemis verstoßen und, nach der Geburt des Arcas, von Hera aus Eifersucht in eine Bärin verwandelt. Als junger Mann macht Arcas Jagd auf diese Bärin. Im letzten Moment entrückt Zeus Mutter und Sohn als großen und kleinen Bären in den Himmel. Er fühlt sich also offenbar noch für Kallisto und ihren gemeinsamen Sohn verantwortlich.

Daphne: Keine Lust auf Apollo!

Die Bergnymphe Daphne, Tochter des Flussgottes Peneios, wird das Opfer von Apollos Nachstellungen. Der Hintergrund nach Ovid: Die Pfeile, die Eros auf die Herzen von Menschen und Göttern abschießt, können, bei goldener Spitze, deren Leidenschaft entfachen oder, bei bleierner Spitze, abtöten. Eines Tages wird Eros von Apollo verspottet, er sei ein schlechter Schütze. Eros schießt daraufhin einen Pfeil mit goldener Spitze auf Apollo ab, der in Liebe zu Daphne entbrennt. Auf Daphne schießt er jedoch einen seiner Pfeile mit bleierner Spitze ab, woraufhin sie von Apollo nichts wissen will. Apollo verfolgt Daphne, die ihren Vater um Rettung anfleht und von diesem flugs in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. Der Lorbeer ist seither Apollo geweiht. Hier wird eine schon seit Jahrtausenden bestehende harte Realität des Liebeslebens symbolisiert: Verliebtheit kann beim Gegenüber auf Ablehnung und Desinteresse stoßen.

Vertumnus und Pomona: Gewaltverzicht

Ovid berichtet sowohl vom Happy End einer solchen Konstellation als auch vom tragischen Ausgang in der Episode von Vertumnus und Pomona: Die Nymphe Pomona hat sich ganz und gar dem Obstanbau und der Baumpflege verschrieben.

„Fürchtend jedoch die Gewalt der Bauern, schließt sie von innen ab ihren Garten und wehrt den Zutritt von Männern und flieht sie.“

Vertumnus, der Gott des Gedeihens und des Wandels, hat sich in Pomona verliebt und kreuzt in vielerlei Bauerngestalt ihren Weg, um sich möglichst oft an ihrem Anblick zu erfreuen. Schließlich verwandelt er sich in eine alte Frau, die voll des Lobes ist für Pomonas herrliche Früchte. Ähnlich wie Zeus bei Kallisto, wird er in dieser Gestalt zudringlich „und küßt sie – so hätt’ eine wirkliche Alte niemals geküßt“. Pomona beanstandet dies offenbar nicht – wohl aus Respekt vor der Greisin. Dann wirbt das Weib dafür, dass sich Pomona auf eine Beziehung mit Vertumnus einlassen solle.

Annaxarete vs. Iphis: Selbstbewusst gegen den Wahn

Um ihren Appell zu unterstreichen, erzählt die vermeintliche Alte die Geschichte von Annaxarete. Sie ist eine jungen Frau aus vornehmem Geschlecht und wird von Iphis, einem „Mann von niederer Abkunft“, hartnäckig umworben. Dieser offenbart Annaxaretes Amme sein Begehren. Er bittet die Dienerschaft, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Iphis schreibt Liebesbriefe, hängt tränenbenetzte Kränze an Annaxaretes Tür und verbringt Nächte auf der Schwelle ihres Heimes. (Neudeutsch würden wir hier von Stalking sprechen.) Annaxarete aber weist Iphis lachend ab und verhöhnt ihn. Am Ende erhängt er sich an einem Baum vor ihrem Haus. Zu seinem Begräbnis der Zug der Trauernden dort vorbei. Annaxarete will mit den Worten „schaun wir doch das traurige Leichenbegängnis“ einen Blick darauf werfen. In diesem Moment verwandelt eine nicht näher genannte Gottheit sie zu Stein.

Ironie

Meines Erachtens wird deutlich, dass Ovid hier – wie auch in der Geschichte von Narziss – mit Ironie arbeitet. Er kann die Bestrafung Annaxaretes nicht wirklich für gerechtfertigt gehalten haben, zumal er in der Erzählung den Zustand des Iphis als „furor“ (Wahn) benennt. Für Ovid hat die junge Frau die besten Gründe, nicht auf das Liebeswerben des wahnbesessenen Iphis einzugehen.

Dieselbe Konstellation finden wir auch in Ovids Darstellung von Echos Schmachten nach Narziss. Hier ist es nun eine Frau, die einem jungen Mann unangemessener Weise eine Beziehung aufdrängen möchte. Narziss wird dann – wie Annaxarete – von einer Gottheit bestraft, weil Echo infolge seiner gerechtfertigten Zurückweisung dahinsiecht, bis ihr ganzer Leib sich aufgelöst hat und nur ihre Stimme zurückbleibt.

Ein weiterer Hinweis auf Ovids ironische Absicht: Die vermeintliche Alte erzählt diese Geschichte „nequiquam“ (umsonst). Die Story ist nicht geeignet, Pomona dazu zu bewegen, den Wünschen des Vertumnus nachzugeben.

Offenheit

Erst als Vertumnus sich der Pomona in seiner eigentlichen Gestalt zeigt, verliebt sie sich in ihn:

„Die Nymphe ward von des Gottes Gestalt gefangen und liebte ihn wieder.“

Niklas Holzberg hat mich freundlicherweise darauf hingewiesen, dass auch hier am Ende von „vis“ (Gewalt, Kraft) im Zusammenhang mit einer Begegnung von Mann und Frau die Rede ist. Als Pomona völlig unbeeindruckt ist von dem Beispiel des Iphis und der Annaxarete, heißt es über Vertumnus lapidar: „Er will ihr Gewalt tun“ („vim parat“). „Doch ist Gewalt nicht nötig“ („sed vi non est opus“). Denn Pomona ist, wie zitiert, höchst angetan von ihrem Verehrer, als dieser – offen und ehrlich – in seiner eigentlichen, glänzenden Gestalt vor ihr steht.

Vis in der Liebeskunst
Überrumpelung mit Küssen?

Für Ovid ist, wie seine Liebeskunst zeigt, „vis“ durchaus ein erlaubtes Mittel, um eine Beziehung anzubahnen: als Ausdruck der Initiative, die nach seiner Überzeugung von dem Mann ausgehen sollte (Liebeskunst, I-663ff):

„Welcher Verständige mischt unter schmeichelnde Worte nicht Küsse? Auch wenn sie selbst keine gibt, hol sie dir dennoch von ihr. Möglich, dass sie sich sträubt und ‚Unverschämter!‘ zu dir sagt; Aber sie wird dann von dir gerne im Kampfe besiegt.“

Bei der Beschreibung des Weges von den Küssen zur vollen Wunscherfüllung geht er sogar noch weiter:

„Magst du Gewalt [vim] es auch nennen, willkommen ist diese dem Mädchen; Oft wollen sie, was sie freut, hergeben nur unter Zwang. Wurde mit jäher Gewalt sie zur Liebe gezwungen, dann freut sich jede, und wie ein Geschenk sieht sie die Dreistigkeit an.“

Aus heutiger Sicht ist diese Haltung natürlich indiskutabel.

Phoebe und Hilaïra

Exemplarisch erwähnt Ovid Phoebe und ihre Schwester Hilaïra. Beide waren bereits anderweitig verlobt, wurden jedoch von Castor und Pollux geraubt.

„Phoebe erlitt Gewalt [vim], vergewaltigt wurde die Schwester; beiden Geraubten jedoch waren die Räuber erwünscht.“

Deïdamia

Ein weiteres Beispiel erzählt von Deïdamia: Der griechische Held Achilles wird von seiner Mutter Thetis als Frau verkleidet in die Obhut des Königs Lykomedes gegeben. (Der Thetis war prophezeit, dass ihr Sohn aus einem Krieg nicht lebend zurückkehren würde, weshalb sie ihn verstecken wollte. Durch eine List des Odysseus wird jedoch Achilles am Ende enttarnt und für den Krieg um Troja rekrutiert.) Lykomedes hat mehrere Töchter (I-697ff):

„Zufällig war in demselben Gemach auch die Tochter des Königs [Deï­damia]; sie sah den Mann erst in ihm [Achilles], als er gewaltsam sie nahm [stupro = durch eine Schändung]. Zwar wurde sie mit Gewalt [viribus (Mehrzahl) = durch Kräfte] besiegt – so muss man es glauben –, doch dass Gewalt sie besiege, war trotzdem ihr Wunsch. Oft sagte sie zu ihm: ‚Bleib!‘, als Achilles zur Abfahrt schon eilte; … Wo ist jetzt die Gewalt? Warum hältst du mit schmeichelnder Stimme, Deïdamia, den Mann, welcher dich schändete, auf? Freilich, bei manchen Dingen, da schämt man sich zwar, zu beginnen, doch man erduldet es gern, wenn das ein anderer macht.“

Patriarchale Selbstgefälligkeit …

Mag sein, dass Ovid hier bloß eine machohafte, patriarchale Selbstgefälligkeit zum Ausdruck bringt. Nicht auszuschließen und für mich wünschenswert, dass Ovid diese und die folgenden Passagen ironisch gemeint hat (was natürlich nur schwer zu belegen wäre), dass er also ein Verhalten als unproblematisch darstellt, das er eigentlich kritisiert. Er könnte damit – subversiv, aber natürlich vorsichtig getarnt – das Verhalten seines Kaisers aufs Korn genommen haben (vgl. die Ausführungen zu Ovid).

… oder Ironie

Ovid könnte seine Argumentation hier – allerdings auf schier undurchschaubare Weise – durchaus ironisch gemeint haben – wie an anderer Stelle deutlich wird. Wird seine hier demonstrierte Haltung wörtlich genommen, so ist sie für unser heutiges Verständnis natürlich indiskutabel: aus solchen Einzelgeschichten allgemeine Bewertungen über die Harmlosigkeit von Gewaltanwendungen in der Beziehungsanbahnung abzuleiten.

Der Paarungstrieb in der Natur

Bevor wir Ovid moralisch verurteilen, sollte er allerdings in seiner Zeit betrachtet werden. Er versteht die Liebeskunst als Fortentwicklung des Paarungstriebes (Liebeeskunst, II-473ff):

„Aber das Menschengeschlecht durchirrte die einsamen Fluren; damals noch war reine Kraft und roher Körper der Mensch. Haus war der Wald ihm, das Gras seine Speise, und Laub war sein Lager; längere Zeit bereits war keiner dem andren bekannt. Schmeichelnde Lust, heißt es, habe die trotzigen Sinne besänftigt: Mann und Frau fanden sich beide am selben Ort ein. Was da zu tun war, das lernten sie selbst ohne Rat eines Lehrers, und es vollzog ohne Kunst Venus ihr süßes Geschäft.“

Hier verweist Ovid auf das Tierreich (II-481ff):

„Hat doch auch seine Gefährtin der Vogel, (…) in freiem Ehebund hängt an der Hündin der Hund. Froh lässt das Schaf sich bespringen, am Stier auch freut sich die Jungkuh; selbst die stumpfnasige Geiß trägt ihren schmutzigen Mann.“

Ovid zufolge ist der uralte, natürliche Trieb zur Paarung der Ursprung der Liebeskunst. Da ist ihm zugutezuhalten, dass er und seine Zeitgenossen und -genossinnen dem menschlichen Urzustand ein gutes Stück näher standen als wir.

Nicht lästig werden!

Im Anschlusskapitel (II-493ff) jedoch fordert Ovid, in der Liebe Weisheit walten zu lassen. Das beinhalte – von Ovid mit Metaphern illustriert – ein Gewahrsein, dass nicht immer das gewünschte Ziel erreicht wird: Nicht jedes Samenkorn keimt, nicht immer hat ein Segelschiff den nötigen Wind. In der Gewissheit, dass das Verliebtsein auch Schmerzen bereithält, die ertragen sein wollen, propagiert er eine respektvolle Behandlung von Frauen (II-529ff):

„Wünscht sie es, nähere dich, doch entferne dich, wenn sie dich meidet. Menschen von edler Geburt ziemt sich’s nicht, lästig zu sein.“

Männer als Opfer

Picus: In Ovids Metamorphosen werden auch Männer zum Opfer von Nachstellungen durch Frauen. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass eine Frau kaum durch körperliche Gewalt einen Geschlechtsakt erzwingen kann. Als Reaktion auf eine Abfuhr ist jedoch bittere Rache möglich, so zum Beispiel bei dem jungen Picus ([105], XIV-312ff): Die Zauberin Circe begehrt ihn. Picus ist jedoch mit Canens glücklich verheiratet und lässt sich nicht auf Circes Werben ein. Zornig verwandelt sie den bemitleidenswerten Picus daraufhin in einen Waldspecht.

Hippolytos: Oder bei Hippolytos (XV-492ff): Seine Stiefmutter Phaedra hat ein Auge auf ihn geworfen. Nicht zuletzt, weil er sich – in Verehrung für Artemis – ganz der Keuschheit verschrieben hat, lehnt er Phaedras Ansinnen entsetzt ab. Ihr perfider Racheplan besteht darin, sich das Leben zu nehmen und ihrem Gatten Theseus in einem Brief zu hinterlassen, dass sein Sohn sie geschändet habe. Vom Vater verflucht kommt der Sohn daraufhin zu Tode.

Narziss: Auch der schöne Narziss wird tödlich verwünscht, weil er sich einer verliebten Nymphe nicht hingibt (vgl. die Ausführungen zum Mythos).

Ovid und die Vis

Ovid hat, wie wir sehen, ein zwiespältiges Verhältnis zur „vis“. Einerseits hat sie für ihn einen negativen Beigeschmack, etwa wenn er glaubt, sie im Fall von Deïdamia ausdrücklich in Abrede stellen zu müssen: „Wo ist sie nun, die Gewalt?“ Oder wenn er wie bei Vertumnus und Pomona den Verzicht auf Gewalt offenbar für die angemessenere Variante hält. Andererseits scheint er, als Kind einer patriarchalen Welt, „vim“ durchaus als natürlichen Ausdruck eines männlichen erotischen Triebes zur Anbahnung einer Beziehung zu werten – vergleichbar dem Geschehen im Tierreich.

Die Eltern des Narziss –
aus der Sicht von Ovid

Aus Ovids Perspektive mag Liriope bei ihrer Paarung mit dem Flussgott zwar mächtigen Lebenskräften ausgesetzt gewesen sein, als problematisch muss er das jedoch nicht empfunden haben. Der Dichter spricht weder von einer Gegenwehr Liriopes, noch berichtet er von negativen Konsequenzen dieser Schwangerschaft. Auf das Verhältnis der beiden Eltern zueinander und zu ihrem Sohn ist er so gut wie gar nicht eingegangen. Andere Quellen, auf die ich noch zu sprechen komme, deuten auf eher unkomplizierte Familienbande hin.

Narziss und seine Eltern

In einer Version wird Narziss eine „Liebe zu den heiligen Quellen“ bescheinigt, was durchaus als Aussage zu dem Verhältnis zu seinen Eltern gedeutet werden darf. Hier wird auch gesagt, dass er seinen Vater suche. Also hat er ihn wohl irgendwie vermisst. Und an der Stelle, an der Ovid den Narziss als 16-Jährigen vorstellt, nennt er ihn „Cephisius“ (= der Kephisische, der zu Kephisos gehörige). Der Vater ist, ganz typisch in einer patriarchalen Welt, besonders bedeutsam für Narziss. Mir ist dieser Aspekt wichtig, weil in jüngerer Zeit etliche Psychologen an der vermeintlichen „Vergewaltigung“ nach heutigem Verständnis ihre negativen Deutungen eines problematischen Vater-Sohn- bzw. Mutter-Sohn-Verhältnisses festmachen und auf ein von Anfang an missratenes Leben des Narziss schließen.

Vergewaltigung
in der Antike

In einer Abhandlung über „Vergewaltigung in der Antike“ stellt Georg Doblhofer 1994 fest (4ff):

„Unbestreitbar ist ‚Vergewaltigung‘ ein moderner Begriff, den es in dieser Form in der Antike nicht gegeben hat.  (…) [Man kannte; K.S.] in der Antike kein Äquivalent für unseren Begriff ‚Vergewaltigung‘. (…) Keiner der antiken Ausdrücke ist mit dem modernen Begriff ‚Vergewaltigung‘ deckungsgleich.“

Fotografie des Buchcovers von "Vergewaltigung in der Antike"
Buchcover von „Vergewaltigung in der Antike“ von Georg Doblhofer (1994)

Heirat ohne Mitgift

Bei einer Vergewaltigung habe es zwei Möglichkeiten gegeben: Die Todesstrafe für den Vergewaltiger oder die Heirat zwischen dem Vergewaltiger und der Vergewaltigten – unter Verzicht auf die Mitgift der Braut. Die Wahl zwischen den beiden Alternativen habe bei dem Opfer gelegen. Teilweise wurden auch lediglich Geldstrafen verhängt, wobei sich die Schwere der Bestrafung danach richtete, ob es sich bei den Opfern um Freie oder Sklavinnen handelte.

Vergewaltigung im Krieg

Daneben wurde anscheinend wenig bis nichts dagegen eingewendet, die Frauen eines besiegten Kriegsgegners zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Allerdings erzählen auch einige Texte, dass – vor allem in Bezug auf die Frauen von hochrangigen Gegnern – solches unterbunden wurde bzw. darauf verzichtet wurde.

Vergewaltigung als „Ehebruch“

Das Problem bei einer Vergewaltigung habe in der Antike nicht so sehr in dem persönlichen Schicksal der betroffenen Frau und deren Erleiden von Gewalt gelegen, sondern es bedeutete vor allem die Beeinträchtigung der Integrität der Familie. Die Legitimität der möglichen Nachkommenschaft sei bedroht gewesen. Daher wurde sie streng bestraft. In etlichen Fällen wird die Tötung des Vergewaltigers beschrieben – entweder durch das Opfer selbst oder durch männliche Fami­lien­an­gehörige. Dies entsprach offenbar den Gesetzen.
Bei verheirateten Frauen sei Vergewaltigung als „Ehebruch“ bezeichnet worden. Sie konnte sich sehr negativ auf das Schicksal von Frauen auswirken. Es wird berichtet, dass manche Frauen wegen der damit verbundenen Schande Suizid begingen, wenn sie damit zum Beispiel jeden Zweifel auszuräumen wollten, dass sie es womöglich selbst gewollt hätten.

Lucretia

Doblhofer referiert das Beispiel der Lucretia in Rom: Zwei Königssöhne und ein Adeliger namens Collatinus, die sich gerade in einem Feldlager befinden, machen sich Gedanken über die Sittsamkeit ihrer zu Hause gebliebenen Ehefrauen. Sie beschließen, ihnen einen Überraschungsbesuch abzustatten. Die Gemahlinnen der Königssöhne werden „bei munteren Zechereien“ angetroffen, während sich die Gattin des Collatinus ehrbarer Hausarbeit widmet. Einer der Königssöhne, Sextus Tarquinius, grämt sich über diese moralische Niederlage – schließlich gilt der Ehemann als Vormund seiner Frau und ist damit verantwortlich für deren Lebenswandel. Er versucht daraufhin, die Frau des Collatinus zu verführen. Da sie sich nicht auf ihn einlässt, vergewaltigt er sie, um auch ihrem Gatten und dessen Haus Schande zu bereiten. Lucretia, das Opfer, begeht Suizid, nachdem sie ihrem Mann die Umstände geschildert hat. Die öffentliche Empörung über das Handeln des Sextus Tarquinius führt zum Sturz des Königshauses und zur Gründung der römischen Republik.

Mythologische Geschichten

Während die begriffliche Fassung eines solchen Sachverhalts für Fälle aus dem realen Leben recht eindeutig sein mag, ist dies im Mythos nicht gegeben. Hier kann ein und dieselbe Episode – je nach Autor – unterschiedlich gewertet werden. Doblhofer (S.7):

„Ein Beispiel dafür sind die Geschichten von Kainis, Oreithyia und Antiope. In Apollodors Bibliothek werden die Begegnungen der drei Frauen mit Poseidon, Boreas und Zeus jeweils mit dem Wort ‚zusammenkommen‘ umschrieben. Der gewaltsame Charakter dieser Begegnungen offenbart sich erst bei Ovid und bei Cicero.“

Hier scheint Doblhofer geradezu davon auszugehen, dass die Charakterisierung als Gewalttat die richtigere Auffassung darstellt. Meines Erachtens wäre es jedoch angemessener, neutral von einer anderen Version zu sprechen.

Siedlungsgründungen durch Entführungen

In Mythen erklären Verbindungen von sterblichen Frauen mit Göttern häufig die Ursprünge von Siedlungen (S.85):
• Sinope wird von Apollo „entführt“. Er bringt sie an den Ort, an dem später die Stadt Sinope entsteht. Der von ihr geborene Sohn Syrus wird zum Stammvater der Syrer.
• Korkyra wird von Poseidon auf die später nach ihr benannte Insel „entführt“. Er zeugt mit ihr Phaiax, den Stammvater der Phaiaken.
• Später „entführt“ Poseidon auch Salamis auf die nach ihr benannte Insel, wo sie den ersten König der Inselbewohner zeugen.
• Zeus „entführt“ Aigina und zeugt mit ihr Aiakos, den ersten König auf Aigina.
• Kyrene wird von Apollo an einen Ort „entführt“, an der eine nach ihr benannte Stadt entsteht, und zeugt mit ihr Aristaios, der die Menschen Käseherstellung, Imkerei und den Anbau von Olivenbäumen lehrt.
• Oreithyia, Tochter des Erechtheus, des ersten Königs von Athen, wird von Boreas „geraubt“, bzw. sie „kommt mit ihm zusammen“. Sie bringt zwei Töchter und Söhne zur Welt.

Frauenraub

In der obigen Darstellung ist eine Entführung offenbar fester Bestandteil des Gründungsmythos, aus dem sich der Anspruch des Volksstammes auf das Wohlwollen der göttlichen Ahnherren ableitet.
Schon früh war der Menschheit bewusst, dass Exogamie, die Paarung mit Angehörigen eines fremden Clans, wichtig ist. Sie vergrößert die genetische Varianz, was die Anpassungsfähigkeit einer Population verbessert.

Bei Ranke-Graves heißt es (S.17):

„Alle frühen Mythen über Vergewaltigung von Nymphen durch den Gott beziehen sich anscheinend auf Heiraten zwischen hellenischen Stammesfürsten und den einheimischen Priesterinnen des Mondes, wogegen Hera, die hier den religiösen Konservatismus symbolisiert, erbittert Widerstand leistete.“

Bei Kerényi (Bd.2, S.92) lesen wir:

„Der Mädchenraub [war] eine bestimmte Form der Hochzeit, durch den Raub der Persephone in uralten Zeiten geheiligt, doch besonders üblich in Lakonien.“

Von Menschen aus dem islamischen Kulturkreis habe ich schon gehört, dass die Entführung einer jungen Frau durch einen jungen Mann eine Möglichkeit für verliebte Paare darstellt, die Einwilligung der Eltern zur Heirat zu erzwingen.

Übersetzungsfrage

Eine ganze Reihe von Göttern und Heroen werden von Doblhofer aufgezählt, die aus einer „Vergewaltigung“ hervorgegangen sein sollen (S.86f):

„Zeus vergewaltigt Maia, Leda, Io, Danae, Semele, Antiope und Alkmene und zeugt mit ihnen Hermes, Kastor und Pollux, Epaphos, Perseus, Dionysos, Zethos und Amphion, und Herakles; Apollon vergewaltigt Arsinoe und Chione und zeugt Asklepios und Philamon, Neoptolemos zeugt mit Andromache den Molossos, Sisyphos mit Antikleia den Odysseus, Herakles mit Auge und Astyoche Telephos und Tlepolemos, und auch Aiakos, Telamon, Aigeus, Dionysos, Peleus und Hermes sind hier zu nennen – ihre Opfer sind Psamathe, Hesione, Aithra, Ariadne, Thetis, Chione und Penelope, die Tochter des Ikarios, die dabei gezeugten Kinder Phokos, Teukros, Theseus, Thoas, Staphylos, Oinopion, Peparethos, Achilles, Autolykos und Pan.“

Maia, Leda, Io, Arsinoe, Chione

Während Doblhofer hier von „Vergewaltigungen“ und ihren „Opfern“ spricht, bei denen jeweils Helden gezeugt werden, weicht meine Übersetzung der Quellentexte [deren Güte vermag ich leider nicht zu beurteilen] von einer solchen Darstellung ab. Die Begegnung des Zeus mit Maia ist bei Apollodor als „zusammenkommen“ umschrieben. Bei Leda heißt es: „umarmt werden“. Io wird bei Apollodor „von Zeus beschlafen“ bzw. „verführt“. Bei der Begegnung Apollos mit Arsinoe formuliert Apollodor: „sie kamen zusammen“. Mit Chione habe Apollo „Hochzeit gehalten“.

Danae

Dem „Zusammenkommen“ von Zeus mit Danae geht voraus, dass ihrem Vater, König Akrisios, prophezeit wurde, dass er durch den Sohn seiner Tochter Danae sterben werde. Er legt daraufhin eine unterirdische Kammer an, in die er seine jungfräuliche Tochter einsperrt, damit sie nicht schwanger werde. Zeus gelangt als goldener Regen in diese Kammer, der von Danae in ihren Kleidern aufgefangen wird, und zeugt auf diesem Weg mit ihr den Perseus. Akrisios stirbt später tatsächlich durch seinen Enkel, der ihn mit einem Diskuswurf versehentlich tötet.

Semele, Alkmene, Antiope

Semele, die bereits von Zeus schwanger ist, wünscht sich aus­drücklich eine weitere Begegnung mit ihm (bei der sie dann zu Tode kommt) – es war also wohl keine „Vergewaltigung“ im modernen Sinn. Bei Alkmene verwandelt sich Zeus in die Gestalt ihres Gatten Amphytrion – und hat keinerlei Widerstand Alkmenes zu überwinden. Zu Antiope formuliert Kerényi: „Sie durfte sich rühmen, in den Armen des Zeus gelegen zu haben (…), der sie in Satyrgestalt verführte“.

Folgen des Geschehens

Etliche antike Autoren sehen die von Doblhofer als „Vergewaltigung“ gedeuteten Begegnungen offenbar nicht problematisch. Unbestritten, dass die von Göttern geschwängerten Jungfrauen negative Konsequenzen zu tragen haben konnten. Danae und ihr Sohn wurden von Akrisios – aus Angst vor dem Orakel – verstoßen. (Auf diese Weise entkommen sie jedoch immerhin ihrem Verlies.) Kallisto wird von ihrer Herrin Artemis aus dem Gefolge verbannt. Kainis wünschte sich von Poseidon, der sich ihr aufgedrängt hatte, in einen Mann verwandelt zu werden, um solch ein Schicksal nie wieder erleiden zu müssen.

Die Eltern von Narziss: Kephisos und Liriope

Verglichen mit diesen facetten- und variantenreichen Ausführungen über das Paarungsverhalten in der griechischen Götterwelt sind im Fall von Liriope, der Mutter von Narziss, die Aussagen über die genaueren Umstände bei ihrem Zusammenkommen mit dessen Vater Kephisos doch recht spärlich. Über irgendwelche negativen Konsequenzen ihrer Schwangerschaft erfahren wir nichts. Insofern sollten Mutmaßungen über die Qualität dieser Beziehung sehr zurückhaltend ausfallen.

 

Literatur

Doblhofer, Georg (1994): Vergewaltigung in der Antike. Beiträge zur Altertums­kunde, Bd. 46, Stuttgart und Leipzig, B.G. Teubner

Kerényi, Karl (1998): Die Mythologie der Griechen. Bd. 2: Die Heroen-Geschichten. München, dtv

Orlowsky, Ursula & Rebekka Orlowsky (1992): Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bil­den­der Kunst und Psychoanalyse. München, Wilhelm Fink

Ovid (1985): Liebes­kunst. Ars Amatoria. Latei­nisch-deutsch. He­raus­ge­geben und übersetzt von Niklas Holzberg. München und Zürich, Artemis Verlag

Ovid (2018): Meta­mor­phosen. Herausgegeben und über­setzt von Niklas Holzberg. Reihe: Sammlung Tusculum. Berlin, Verlag De Gruyter

Pausanias (2001): Reisen in Griechenland. Auf­grund der kommentierten Übers. von Ernst Meyer hrsg. Von Felix Eckstein und Peter C. Bol. Bd. 3: Delphoi. Bücher VIII-X. Düsseldorf u.a., Artemis & Winkler

Ranke-Graves, Robert v. (1984): Griechische Mytho­lo­gie. Quellen und Deutung. Ro­wohlt Taschenbuch

Schlagmann, Klaus (2012) GRADIVA. Wahrhafte Dichtung und wahnhafte Deutung. Der vollständige Briefwechsel von Wilhelm Jensen und Sigmund Freud, Erläuterungen zu Jensens Novelle ‚Gradiva’ und ihrer Interpretation durch Freud, Jensens Lebenswirklichkeit, einige seiner Gedichte – darunter sein Spottgedicht auf Freuds Deutung – und der illustrierte Gesamttext der ‚Gradiva’ (unter Einbezug der Erstveröffentlichung von 1902). Saarbrücken, Verlag Der Stammbaum und die 7 Zweige

Trencsényi-Waldapfel, Imre (1979): Die Töchter der Erinnerung. Götter- und Heldensagen der Griechen und Römer mit einem Ausblick auf die vergleichende Mythologie. (Aus dem Ungarischen über­setzt von Mirza Schüching.) Berlin, Rütten & Loening

Voß, Johann Heinrich (1798): Die Metamorphosen des Ovid (online)

Wieseler, Friedrich (1856): Narkissos. Eine kunst­my­thologische Abhandlung nebst einem Anhang über die Narcissen und ihre Beziehung im Leben, Mythos und Cultus der Griechen. Göttingen, Die­terich (online)