
Narzissmus?
In seinem Buch (Untertitel: Von Freuds Narzißmustheorie zur Selbstpsychologie) bringt Wahl bereits im Titel zum Ausdruck, dass er dieses Konzept offenbar für etwas fragwürdig hält. Auf den ersten Seiten weicht dann tatsächlich seine Deutung der Geschichte vom gängigen (Un‑)Verständnis leicht ab und weist in eine andere Richtung. Sein Bild von Narziss gerät dann leider trotzdem schief.
Ausgangspunkt: Vergewaltigung der
Mutter von Narziss?
Heribert Wahl, seines Zeichens Pastoralpsychologe, leitet aus der moralisierten „Vergewaltigung“ Folgendes ab:
„Nimmt man Ovids dichterische Erweiterung – quasi als Assoziationen – hinzu, wonach der Flußgott Kephissos die Mutter des Narziß, die Quellnymphe Leiriope, vergewaltigte, so wird noch deutlicher, daß es um eine primäre, archaische Selbstobjekt-Beziehung zu einer Mutterfigur geht, und zwar um deren traumatisch-tragisches Scheitern!“
Womöglich soll sich das Konstrukt einer „primären, archaischen Selbstobjekt-Beziehung zu einer Mutterfigur“ mit „traumatisch-tragischem Scheitern“ nach einer durchdachten Weisheit anhören. Vermutlich weiß der Autor aber selbst gar nicht so genau, was er damit sagen will. Solche Begriffsungetüme sind inhaltlich so unpräzise, dass ihre Anwendung geradezu beliebig wird. So erspart sich Wahl, konkrete Aspekte dieser Beziehung auf ihre Problematik hin zu untersuchen. Und da gibt es nun mal wenig Material. Die Quellenlage zum Verhältnis zwischen Liriope und ihrem Sohn ist recht mager.
Da jedoch von Narziss gesagt wird, dass er ein äußerst liebenswertes Kind gewesen ist, liegt für mich nahe:
a) Er dürfte auf die eigene Mutter kaum anders gewirkt haben.
b) Sein gesundes Selbst-Bewusstsein lässt auf eine tragfähige, bestärkende Beziehung zu seinen primären Bezugspersonen schließen.
Selbtgefälligkeit?
„Bei Ovid empfindet jedenfalls der desillusionierte Narziß keine narzißtische Befriedigung über seine eigene Schönheit, eher tiefe Verzweiflung und Todeswunsch, weil der ‚Fremde‘ nicht existiert – er stirbt an der Ent-Täuschung, daß sein Liebesobjekt keine unabhängige Existenz hat, sondern nur Trug seiner Vorstellung ist (Vinge 16f.).“
Im ersten Teil des Satzes gefällt mir, dass Narziss „keine Befriedigung über seine eigene Schönheit“ erlebt, sondern „Verzweiflung“ (wobei ich den „Todeswunsch“ ausklammern möchte). Das wird der Szenerie, die ja eine Bestrafungsaktion der Rachegöttin Nemesis ist, eher gerecht.
Dabei bleibt Wahls Begründung für diese „Verzweiflung“ konstruiert und oberflächlich. Ja, tatsächlich erzählt der gleichnishafte Mythos davon, dass Narziss sein Spiegelbild im Wasser nicht ergreifen kann und daran verzweifelt. Und auch, dass Narziss hier erkennt, dass sein Spiegelbild („sein Liebesobjekt“), also er selbst, eben keine „unabhängige Existenz“ hat, kann für mich so stehen bleiben: Er selbst ist vergänglich. Schönheit und Jugend sind nicht von Dauer. Und auch geliebte Menschen – wie die Zwillingsschwester und seine Eltern, an die er durch den Widerschein seines Gesichts in der Quelle erinnert wird – haben ebenfalls keine „unabhängige Existenz“. Sie leben nur, solange ihr Schicksal dies zulässt. Leider kann das mitunter sehr kurz sein. Aus meiner Sicht haben wir es hier mit einer überdeutlichen Symbolik zu tun, weshalb die Botschaft darin gar nicht zu übersehen ist.
Ent-Täuschung?
Doch Wahl spricht hier von „Ent-Täuschung, dass sein Liebesobjekt keine unabhängige Existenz hat“. Diese Formulierung, die in Bezug auf „keine unabhängige Existenz“ irgendwie zutrifft, lenkt aber in eine falsche Richtung. Als hätte Narziss sich zuvor getäuscht und litte unter einer Wahrnehmungsstörung. In Bezug auf die Zwillingsschwester formuliert Pausanias ausdrücklich, dass Narziss wohl nicht so blöd ist, sein eigenes Spiegelbild zu verkennen. Ihm ist also klar, dass er nichts Existentes erfassen wird, wenn er in die Quelle hineingreift. Er ist in diesem Sinne nicht ent-täuscht, weil er sich diesbezüglich zuvor gar keiner Täuschung hingegeben hatte. Er weiß, dass die ersehnte Zwillingsschwester unwiederbringlich verloren ist. Sein Gemütszustand wäre sehr viel passender und klarer beschrieben mit (massiver) Trauer oder Verzweiflung.
Trauer und Täuschung
Dabei kann zu einer Phase der Trauer dazugehören, dass die Trauernden sich einer Illusion hingeben, die geliebten Verstorbenen lebten noch. Sie seien nur für den Moment nicht da, kehrten jedoch bald wieder zurück. Insofern kann in solch einem Erinnertwerden an verlorene Personen auch etwas von „Ent-Täuschung“ mitschwingen. Die zentrale Emotion aber dürfte mit Trauer sehr viel präziser beschrieben sein als mit dem unspezifischen Begriff „Ent-Täuschung“.
Ent-Täuschung
der Abgewiesenen
„Ent-Täuschung“ passt besser zu den „ent-täuschten“ Bewerbern. Diese glauben tatsächlich, dass sie ohne den anderen, ohne Narziss, nicht leben könnten. Und das, obwohl sie noch nie mit ihm in einer näheren Beziehung standen. Wenn Narziss das Gefühl hat, durch den Verlust seiner Zwillingsschwester oder seiner Eltern, mit denen er eine innige wechselseitige Beziehung gepflegt hat, fehlte ihm etwas Lebenswichtiges, dann ist dieses Gefühl gut begründet und nachvollziehbar. Wenn jedoch Echo, Ameinias und Ellops sich einer zentralen Lebenskraft beraubt sehen, nur weil sich der ihnen im Grunde fremde Narziss nicht als willfährig erweist, dann ist das nicht wirklich begründet und nachvollziehbar. Diese drei haben sich tatsächlich der Täuschung hingegeben, dass das vermeintliche „Liebesobjekt“ ihnen wie ein Objekt verfügbar wäre. Das Objekt macht ihnen aber als Subjekt einen Strich durch ihre Rechnung.
Geschwister-Inzest
Auch Wahl gehört zu jenen, die über den Geschwisterinzest mutmaßen:
„Diese ‚andere‘ Person taucht in der 2. Version des Pausanias in Gestalt der ihm völlig gleichen Zwillingsschwester auf. Die alter-ego- bzw. Zwillingsphantasie ist dabei als inzestuöse Liebesbeziehung verkleidet, was die unvollständige Differenzierung unterstreicht: das Selbstobjekt ‚stirbt‘, was den Tod des Narziß einschließt.“
In den PsychoanalytikerInnen-Kreisen wird leidenschaftlich gern über inzestuöse Verhältnisse spekuliert. Das ist nichts Neues. Bei vielen von Freuds Gefolgsleuten, so auch bei Wahl, geht dadurch allerdings das Feingefühl verloren, welches sie anerkennen ließe, dass der Tod eines Zwillingsgeschwisters in der Regel und ohne jeglichen inzestuösen Hintergedanken überaus schmerzhaft ist. In der Version des Mythos nach Pausanias kommt auch genau diese Trauer zum Ausdruck. Dahinter muss sich keine „Phantasie“ verbergen, vielmehr spiegelt es vermutlich einfach nur unmittelbares Erleben. Warum müssen Fachleute wie Wahl etwas in die Geschichte hineindichten, statt sie so zu nehmen, wie sie psycho-logisch ist?
Mangelnde Differenzierungsfähigkeit?
Am Ende von vielen komplizierten, für mich weder nachvollziehbaren noch verständlichen Ausführungen stellt Wahl dann seine neu durchdachte Sicht auf den Mythos dar:
„Wenn Narziß sich in sein Schattenbild verliebt, ohne es zu merken, stirbt er an seiner illusionären Liebe zu einem ‚anderen‘. (…) genau diese Differenzierungsfähigkeit zwischen Selbst und Objekt, und damit die Beziehungs- und Liebesfähigkeit [ist] bei Narziß nicht gegeben; ihm fehlt demnach ein spiegelndes Selbstobjekt, das ihm diese Differenz validiert und dadurch sein Anderssein bestätigt!“
Narziss ist sich doch bewusst, dass der Tod ein liebevolles Zusammensein mit der Zwillingsschwester unmöglich gemacht hat. Auch die Bewahrung oder das Festhalten des eigenen Selbst ist unmöglich. Die Sehnsucht nach der Unvergänglichkeit der Schwester wie auch des eigenen Selbst ist und bleibt eine Illusion. Sein Spiegelbild im Wasser erinnert ihn daran: Nichts im Leben lässt sich festhalten. Unvergänglichkeit ist illusionär. Daran verzweifelt er.
Unfähig zur Differenzierung zwischen sich selbst und dem anderen sind hingegen Echo, Ameinias und Ellops. Für diese Drei ist offenbar ganz selbstverständlich, dass ihre eigene Verliebtheit zwangsläufig bei Narziss auf Gegenliebe stoßen müsste. Tut sie aber nicht.
Differenzierungsfähigkeit!
Zudem vermag Narziss sehr wohl zu erkennen, dass es sich bei der hohlen Echo um jemand anderen als ihn selbst handelt. Und das, obwohl sie genau das sagt, was er soeben selbst gesagt hat. Ebenso ist er in der Lage, Ameinias als von sich selbst unterschieden wahrzunehmen. Und das, obwohl dieses „Objekt“ über dieselbe Art von Genitalien verfügt wie er selbst. Trotz dieser Gemeinsamkeiten grenzt er sich von ihnen ab.
Sowohl das Festhalten-Wollen als auch das Abgrenzen-Können macht sein „Differenzierungsvermögen“ aus. Er trifft eine bewusste Entscheidung in Beziehungsfragen. Er ist nicht wahllos darin, wen er lieben oder nicht lieben möchte.
Begriffsbewusstsein
Mythenrezeption
Wahl benennt immerhin sechs Versionen, klammert jedoch Ellops aus.
Begrifsgeschichte
Wahl verzichtet gänzlich auf Hinweise zur verqueren Entstehungsgeschichte des Begriffes.
Literatur
Wahl, Heribert (1985): Narzißmus? Von Freuds Narzißmustheorie zur Selbstpsychologie. Stuttgart, Kohlhammer [12f; 190]