Wikipedia und Narziss bzw. Narzissmus

Narziss

Neue Version – echt antik?

Auf Wikipedia ist ein besonders markanter Fake-Mythos zum Tod des  Narziss entstanden, der – fälschlich! – dem Pausanias zugeschoben wird.  An anderer Stelle – „Mythos – Fake-Mythen“ – habe ich erläutert, wie ich darauf gestoßen war. Dieser Fake-Mythos wurde im Jahr 2005 in der deutschen Wikipedia „geboren“ und hat dann dort 15 Jahre lang „gelebt“.

Im Wikipedia-Artikel zum Stichwort „Narziss“ in der Version vom 28.07.2005 heißt es:

„Der Sage nach wies der vielfach Umworbene auch die Liebe der Nymphe Echo zurück. Dafür wurde er von Nemesis, nach anderen Quellen durch Aphrodite, dergestalt bestraft, dass er in unstillbare Liebe zu seinem eigenem [sic] im Wasser widergespiegelten Abbild verfiel. Damit erfüllte sich das Dictum des Sehers Teiresias, wonach er ein langes Leben nur haben werde, wenn er sich nicht selbst kennen lerne. [*] Nach seinem Tode wurde er in eine Narzisse verwandelt (Pausanias 9.31,7).“

Georgios

An der markierten Stelle ([*]) fügt nun – laut Versionsgeschichte – am 10.08.2005 ein gewisser „Georgios“ das Folgende ein:

„Eines Tages setzte er sich an den See um sich seines Spiegelbildes zu erfreuen, Woraufhin, durch Göttliche fügung ein Blatt ins Wasser fiel und so, durch die erzeugten Wellen sein Spiegelbild trübte, Geschockt von der Vermeintlichen Erkenntniss, er sei hässlich (wegen der Wellen die sein Spiegelbild verzerrten) starb Er.“

„Georgios“ ist übrigens heute nicht mehr in Wikipedia aktiv – jedenfalls nicht unter diesem Pseudonym. Der Inhalt seines Einschubs blieb unbeanstandet. Seine Rechtschreibfehler wurden am 18.10.2005 verbessert. Über weitere Veränderungen hat sich dann eine bis zum 16.10.2020 gültige Version ausgebildet:

„Pausanias überliefert: Eines Tages setzte sich Narziss an den See, um sich seines Spiegelbildes zu erfreuen, woraufhin durch göttliche Fügung ein Blatt ins Wasser fiel und so durch die erzeugten Wellen sein Spiegelbild trübte. Schockiert von der vermeintlichen Erkenntnis, er sei hässlich, starb er. Nach seinem Tode wurde er in eine Narzisse verwandelt.[7]“

In Fußnote [7] dann der Hinweis: „Pausanias, Beschreibung Griechenlands 9.31.7.“

In zahlreichen Publikationen wird der groteske Inhalt dieses frei erfundenen Mythos von Wikipedia kritiklos übernommen. Derzeit habe ich über 70 Belegstellen gesammelt. Hätten die abschreibenden AutorInnen nur einen kurzen Blick in den Original-Pausanias geworfen, so hätten sie die Lüge sofort durchschauen müssen, und ihnen und ihrem Publikum wäre ein lächerlicher Irrtum erspart geblieben. So aber wird der krause Blödsinn zum Inhalt von „Fachbüchern“ (Hans-Joachim Maaz, Jochen Peichl, Raphael Bonelli, Reinhard Haller, Michael Ermann), Kunstprojekten, Zeitungsartikeln oder gar einem „Lektüreschlüssel“ in der Ausgabe Reclam XL.

Widerspruch

Am 6. Mai 2011, circa sechs Jahre nach der Kreation dieses Fake-Mythos, meldet sich auf der Diskussionsseite zu diesem Wikipedia-Artikel ein/e AutorIn mit dem Kürzel JM zu Wort, zitiert ausgiebig eine englische Volltextausgabe von Pausanias – und merkt dabei an, dass diese „Blattgeschichte“ dort nicht zu finden ist. Und – völlig korrekt – verweist sie/er auf den eigentlichen Kern der Pausanias-Variante – den Griff nach dem eigenen Spiegelbild als Reaktion auf den Tod der geliebten Zwillingsschwester: „Diese Mythosversion ist belegbar, sie sollte erwähnt werden.“

Darauf antwortet am selben Tag ein/e „Re probst“: „Ja, muss geändert werden. Dort muss die Version mit der Zwillingschwester rein. Hast du vielleicht eine Ahnung, woher die Version mit dem Blatt, dass das Spiegelbild verunstaltet her kommt? SOnst muss ich das nämlich ganz raussschmeisen!“ [Originalschreibweise]

Und 9 Tage später folgt eine Antwort von unbekannter Seite – womöglich von JM: „Nein, ich habe leider keine Ahnung, woher die Version mit dem Blatt kommt! Ich würde sie rauslöschen.“

Dieser vernünftigen Anregung wird jedoch erst einmal nicht gefolgt. Mehr als 5 Jahre später, am 26. November 2016, lässt sich eine weitere namenlose Stimme aus dem Kreis der Wikipedia-AutorInnen vernehmen: „Da hat sich immer noch nichts dran geändert! — Auch die deutschen übersetzungen, die man im Netz mittlerweile digitalisiert findet (z.B. http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd18/content/pageview/7217845 ), sind da eindeutig: das Außergewöhnliche bei Pausanias ist die Geschichte mit der Zwillingsschwester, nichts mit Blättern auf Teichen… kann sich dem nicht jemand annehmen?“

Auch hier also eine erneute, gut begründete Anregung, den offensichtlichen Fehler zu beheben. Aber es passiert lange Zeit nichts. Diejenigen, die damals diese vernünftige Idee hatten, die Georgios-Variante zu löschen, waren anscheinend nicht beherzt genug, die befürwortete Änderung auch selbst vorzunehmen. Auch kein „admin“ folgte dem Vorschlag. [Anscheinend habe ich dabei eine falsche Vorstellung von der Aufgabe von admins in Wikipedia: Wie einer Wikipedia-Diskussionsseite zu entnehmen ist, zählt die regelmäßige Betreuung von bestimmten Artikeln anscheinend nicht per se zu den admin-Aufgaben.]

Mehr als 15 Jahre hält sich also auf Wikipedia die von Georgios in die Welt gesetzte Pausanias-Fake-Variante des Mythos. Die letzten 9 Jahre gab es hierzu zwar ausdrücklichen und bestens begründeten Widerspruch, aber er wurde nicht umgesetzt.

Der Wikipedia-Autor „Mautpreller“ hat am 16.10.2020 begonnen, diesem Spuk dann ein Ende zu machen. (Vielen Dank!)

An anderer Stelle liste ich nun einzelne Texte auf, die speziell diese unsinnige Behauptung über eine bei Pausanias verbürgte Blattgeschichte im Mythos von Narziss – oftmals mitsamt der Angabe einer konkreten Fundstelle – unkritisch in ihre Texte übernommen haben. Damit nimmt die Verbreitung einer Lüge ihren Lauf und sickert ins öffentliche Bewusstsein.

Sonstige Mythenrezeption

Auch das, was die Wikipedia-AutorInnen sonst so über Narziss zu berichten wissen, ist eher dürftig. Sie erwähnen zwar Echo und Ameinias, aber weder die Sehnsucht nach Zwillingsschwester, Vater oder Mutter. Auch ein gewisser Ellops wird nicht erwähnt. Ein Hinweis auf Wieselers Werk fehlt gänzlich (Stand: 24.10.2020). Dabei sind in Wikipedias Literaturliste zum Artikel „Narziss“ durchaus Quellentexte wie Renger (seit 25.05.2005) oder Orlowsky & Orlowsky (seit 21.01.2011) genannt, in denen jene Inhalte angesprochen sind.

Fazit

Einmal mehr zeigt sich, dass Wikipedia nur mit größter Vorsicht zu genießen ist. Es liegt jedoch auch vor allem in der Verantwortung der jeweiligen NutzerInnen von Wikipedia, sich kritisch mit der Quelle ihrer Erkenntnis auseinanderzusetzen. Und selbst dann, wenn sie dazu nicht in der Lage sind, wäre es zumindest angemessen anzugeben, woher man seine Weisheiten bezogen hat. Das würde aufgeklärten Geistern eine Menge Grübelei über den Ursprung irgendwelcher Fake-Versionen ersparen.

Quelle

Wikipedia: Narziss. Versionen vom 04.10.03, 25.05.05, 28.7.05, 10.8.05, 18.10.05, 27.03.10, 21.01.11 und 17.10.19