Sylvia Zwettler-Otte und Narziss bzw. Narzissmus (2012)

Fotografie des Buchcovers von Der Spiegel des Narziss. Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen. (Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Galerie im Taxispalais, 1.12.12 – 10.2.13.) (Hgg. von Beate Ermacora, Maren Welsh: Köln, Snoeck Verlagsgesellschaft mbH)
Buchcover von „Der Spiegel des Narziss. Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen“ (2012) – es enthüllt uns das Verhältnis von Sylvia Zwettler-Otte und Narziss

Sylvia Zwettler-Otte und Narziss: Narzissmus im Spiegel antiker Mythologie

Folgt man Sylvia Zwettler-Otte und dem genannten Beitrag, dann hat die psychoanalytische Zunft inzwischen erwiesen, dass alles, was Freud und seine AnhängerInnen zum Narzissmus gesagt haben, sich tatsächlich in dem Mythos spiegelt. Zwettler-Otte und Narziss: Das sind eine Fülle von aus der Luft gegriffenen Vorwürfen gegen den sympathischen, selbstbewussten Jüngling.

„Ovids Darstellung in den Metamorphosen [zeugt] (…) von einem so vollkommenen Symbolverständnis, dass es frappante Übereinstimmungen mit den [psychoanalytischen; K.S.] Auffassungen unserer Zeit gibt.“

Dann wollen wir mal sehen.

Feindselige Mutter?

Für Zwettler-Otte steht fest, dass Narziss durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde. Daran anknüpfend entwickelt sie weitere Mutmaßungen:

„Von seiner Mutter (…) berichtet Ovid als Erstes, dass sie besorgt war, ihr Kind könnte früh sterben.“

Offenbar ist es der Autorin schnuppe, dass sie damit Nuancen zweier Aussagen verwischt. Im Originalton lautet die Frage der Mutter, „ob denn der [Narziss; K.S.] die Zeit eines langen, reifen Alters sehn werde“. In der Übersetzung von Zwettler-Otte wird daraus – wie bei Maaz – die Sorge, „ihr Kind könnte früh sterben.“ Schon hier lässt die Autorin erkennen, dass auch sie der Mutter eine negativ getönte Haltung unterschiebt, was im Folgenden ausdrücklich bekräftigt wird:

„Es bedarf keiner allzu großen psychoanalytischen Erfahrung, um aus dieser Sorge den verborgenen, unbewussten Todeswunsch herauszuhören, der natürlich primär dem Mann, der ihr Gewalt angetan hat, gilt, der aber auch auf die Frucht dieser Gewalttat übergreift. (…) Schwer wäre es für Liriope gewesen, ihre Ablehnung des Kindes hinter ihrer scheinbar liebevollen Sorge zu sehen.“

Zwettler-Otte spricht kurz darauf von der „verdächtig überfürsorglichen Mutter“.

Verkehrung ins Gegenteil

„Es bedarf keiner allzu großen psychoanalytischen Erfahrung, um (…)“. Hier liegt eine psychoanalytisch-suggestive Formulierung vor uns: Angeblich ist halbwegs geschulten PsychoanalytikerInnen klar, dass sich hinter allem Möglichen oft genau das Gegenteil verbirgt, dass zum Beispiel ein „Nein“ eigentlich „Ja“ bedeutet. (So argumentiert jedenfalls – wortwörtlich – Freud in seinem „Bruchstück eine Hysterieanalyse“ von 1905.) Da wird aus der Frage einer Mutter an einen Seher, ob ihr Kind wohl ein hohes Alter erreichen wird, im Handumdrehen der Todeswunsch der Mutter. Da die Lebenserwartung eines Menschen im Rom des Ovid bei 20 bis 30 Jahren lag – so bei Wikipedia nachzulesen – , scheint mir persönlich die Frage einer Mutter an ein zuverlässiges Orakel, ob ihr Kind denn die Reife des Alters erleben werde, nicht allzu abwegig oder gar bösartig. Im Gegenteil.

Darüber hinaus ist sich Zwettler-Otte ebenso wie ihr Kollege Maaz sicher, dass bereits die Namensgebung die Boshaftigkeit Liriopes offenbart:

„Doch was verdrängt ist, kämpft sich immer wieder an die Oberfläche. Leiriope nennt ihr Kind Narcissus. Der Name hängt mit dem griechischen Wort ναςκάνω (erstarren, erlahmen) zusammen, dessen Sinn uns im Wort Narkose überliefert ist.“

Und damit es auch alle kapieren, wiederholt sie zum dritten Mal: Die Kindheit des Narziss sei „überschattet“ gewesen von der „unbewussten Feindseligkeit seiner Mutter.“ Für diese Unterstellung gibt es im Mythos aus meiner Sicht keinerlei Anhaltspunkt.

Fehlen des Vaters?

Auch das „Fehlen des Vaters“ hat Zwettler-Otte flugs als Problem ausgemacht, wobei sie uns eine Kostprobe typisch psychoanalytischer Wortwahl gibt:

„Die triangulierende Funktion des Vaters ist ein notwendiger Schutz gegen das ‚Risiko einer Regression auf die Stufe der Identifizierung mit dem Primärobjekt‘ [Grunberger, 1982] und wirkt der Gefahr einer Wiederverschmelzung mit der Mutter entgegen. (…) Narcissus konnte folglich weder vonseiten der verdächtig überfürsorglichen Mutter noch vonseiten des fehlenden Vaters jene optimal dosierten Frustrationen erleben, die für seine Entwicklung förderlich gewesen wären.“

Weiter unten werde ich darauf eingehen, welche gravierenden Probleme sich daraus für ihn ergeben. Angeblich.

Narziss mit einem Ödipuskomplex?

Auch Zwettler-Otte bekräftig den vermeintlichen Ödipuskomplex des Narziss und hat für dessen Spiegelung im Wasser eine Deutung parat, die aus einem psychoanalytischen Lehrbuch stammen könnte:

„Die symbolische Bedeutung des Wassers lässt die Sehnsucht ahnen, zur pränatalen Existenz zurückzukehren. Sie ist mit Fantasien von Ewigkeit, Zeitlosigkeit, Unverletzlichkeit und Allmacht verbunden. (…) Der Mythos von der Rückkehr in den mütterlichen Schoß gehört nach Freud zu den großen Urfantasien.“

Ödipaler Inzestwunsch und Sehnsucht nach Rückkehr in den Mutterleib, wie von Freud postuliert, sind also, nach Zwettler-Otte, mustergültig anhand des antiken Mythos belegbar. Zumindest für all jene, die daran glauben wollen.

Arrogante Haltung?

„Es verwundert nicht“, so Zwettler-Otte, „dass er [Narziss] im Kontakt mit Gleichaltrigen keinerlei realistische Selbsteinschätzung, sondern eine arrogante Haltung an den Tag legte.“

Schließlich sei er nur unzureichend in der Lage gewesen, der „Identifizierung mit dem Primärobjekt“ zu entgehen, sei der „Gefahr der Wiederverschmelzung mit der Mutter“ erlegen, woraus sich zwangsläufig „keinerlei realistische Selbsteinschätzung“ und eine „arrogante Haltung“ entwickeln mussten. So werden aus der Konstruktion problematischer familiärer Hintergründe Zug um Zug die angeblich negativen Eigenschaften des Narziss erklärt.

Dabei geht aus dem Wenigen, das wir von Narziss wissen, hervor, dass er mit anderen Jungs und seiner Schwester auf Hirschjagd war. Das klingt nicht so, als hätte er ständig an Mutters Rockzipfel gehangen. Und dass dieser Narziss – als 16-Jähriger – keine Lust auf ein sexuelles Abenteuer mit einer hohlen Nymphe und zudringlichen Kerlen hatte, ist alles andere als fehlende „realistische Selbsteinschätzung“, für mich klingt es vielmehr nach souveränem Selbstbewusstsein und gesunder Abgrenzung. Eine „arrogante Haltung“ würde ich gelten lassen, wenn es im etymologischen Sinne von arrogans (lat.) = anspruchsvoll gemeint wäre.

Notorischer Einzelgänger?

Als die Autorin die Szene im Wald skizziert, heißt es:

„Narcissus hat sich – wie so oft – von seiner Schar treuer Begleiter auf der Jagd abgesondert.“

Wenn Ovid uns den Narziss als notorischen Einzelgänger hätte schildern wollen, dann hätte er ein „wie so oft“ wohl mühelos in seinen Text eingefügt. Hat er aber nicht. Es ist also nichts weiter als eine abermalige negativ getönte Unterstellung, die Zwettler-Otte hier einwebt, auf dass der Text besser zu dem behaupteten Egozentrismus passt, wohlgemerkt: vor seiner „Bestrafung“.

Angst vor Echo?

Zwettler-Ottes Deutung der Begegnung mit Echo:

„Sein [des Narziss; K.S.] unstillbares Verlangen nach körperlicher Umarmung und seelischer Nähe wird nie erfüllt werden können, weil es ihm gleichzeitig unmöglich ist, Nähe auszuhalten. Ovid macht uns zu Zeugen der ängstlichen Verwirrung, der Hilflosigkeit und schließlich der Panik, die Narcissus in der Begegnung mit der Nymphe Echo erlebt.“

Abgesehen davon, dass es für das „unstillbare Verlangen nach körperlicher Umarmung“ bei Narziss klare Gegenbelege gibt, ist es auch irrwitzig, „ängstliche Verwirrung, Hilflosigkeit und Panik“ in das Handeln des Narziss hineinzudeuten, als er sich entschlossen dem plumpen Annäherungsversuch Echos entzieht.

Coitus mit Echo?

Zumal Zwettler-Otte das sexuelle Ansinnen der Echo dabei ausdrücklich hervorhebt:

„‚Huc coeamus!‘ – ‚Lass uns hier uns vereinen!‘ Dieser Höhepunkt des Dialogs beinhaltet die Vorstellung einer sexuellen Vereinigung, eines Koitus: ‚coire‘ heißt sowohl ‚zusammentreffen‘ als auch ‚Beischlaf halten‘; Brautleute hießen ‚coeuntes‘. Und Echo (…) antwortet (…): ‚Coeamus!‘ – ‚Uns vereinen!‘ Sie kommt aus dem Wald, um ihm um den Hals zu fallen.“

Zur Erinnerung: Narziss hatte sein „coeamus“ an die aus den Augen verlorenen Jagdgenossen gerichtet, im Sinne von: „Lasst uns hier zusammentreffen!“ Das Echo darauf stammt jedoch nicht von seinen Freunden, sondern von einer liebestollen Nymphe, die sich ihm auch gleich an den Hals wirft. Das „coeamus“ bei dieser Aktion aus ihrem Mund bekommt sofort einen eindeutig sexualisierten Klang. Für PsychoanalytikerInnen, in deren Augen der größte Teil des Lebens aus sexuellen Impulsen zu bestehen scheint, ist es wohl schwer vorstellbar, dass jemand auch einmal nicht auf irgendwelche sexuellen Angebote eingeht. Das Weglaufen vor solch einem Ansinnen ist für sie anscheinend kein Ausdruck gesunder Abgrenzung, sondern ein Beleg für „ängstliche Verwirrung, Hilflosigkeit und Panik“.

Wie Lehrmeister Freud

Freud hatte genau diese Sichtweise im Fall eines jungen Mädchens vorexerziert. Ein Freund des Vaters hatte die 13-jährige Ida Bauer in einem Büro an sich gepresst und auf den Mund geküsst. Freud geht davon aus, dass sie dabei deutlich „das Andrängen des erigierten Gliedes [von Herrn Z; K.S.] gegen ihren Leib“ gespürt habe. Dass sie sich in dieser Situation losgerissen hatte und davongerannt war, lasse sie als „ganz und voll hysterisch“ erkennen. Bei einem gesunden Mädchen hätte er stattdessen sexuelle Erregung erwartet. Diese Studie gilt bis heute als ausgezeichnetes Lehrmaterial für angehende PsychoanalytikerInnen.

Gesunde 13- bis 16-Jährige haben sich also allen sexuellen Kontakten, die sich ihnen anbieten, freudig hinzugeben – auch wenn diese von einem zudringlichen Erwachsenen oder einer einfältigen Nymphe ausgehen. Kommt es hingegen zu einer Absage, wie bei Narziss oder Ida Bauer, erkennen ExpertInnen wie Zwettler-Otte oder Freud darin „ängstliche Verwirrung, Hilflosigkeit und Panik“ oder, dass der- bzw. diejenige „voll und ganz hysterisch“ ist.

Begriffsbewusstsein

Sylvia Zwettler-Otte und Narziss

Zwettler-Otte rückt in ihrer Abhandlung die Ovid’sche Version in den Vordergrund, erwähnt dabei jedoch ausdrücklich die Bedrängnis des Narziss durch Ameinias ebenso wie die Variante mit der Zwillingsschwester. Vage klingt der Bezug zu Mutter und Vater an. Die Variante mit Ellops spart sie aus. Dabei beherrscht die Autorin die psychoanalytische Kunst, dem sympathischen, selbstbewussten Protagonisten der Erzählung alle möglichen problematischen Eigenschaften anzudichten.

Begriffsgeschichte

Auch für Zwettler-Otte ist die Geschichte des Narzissmus wohl erst interessant, seit Freud sich damit beschäftigt hat. Das bezeichnende Durcheinander bei seiner Entstehung zwischen Ellis und Näcke blendet sie aus.

Literatur

Freud, Sigmund (1905, 1993): Bruchstück einer Hy­ste­rieana­lyse. Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch Verlag

Zwettler-Otte, Sylvia (1989): Narzissmus im Spiegel antiker Mythologie. In: Günther Bartl, Friedrich Pesendorfer (Hg.): Strukturbildung im therapeutischen Prozess. Wien, Literas Universitätsverlag

Zwettler-Otte, Sylvia (2012): Narzissmus im Spiegel antiker Mythologie. In: Beate Ermacora, Maren Welsh (Hg.): Der Spiegel des Narziss. Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen. (Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Galerie im Taxispalais, 1.12.12 – 10.2.13.) Köln, Snoeck Verlagsgesellschaft mbH